Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)
Aufmerksamkeit nach sich zieht als die üblichen blutigen Anschläge. Oft und fälschlich wird angenommen, dass derlei nur weit weg, in abgelegenen Provinzregionen stattfindet. Aber dieser Mord geschieht mitten in einer italienischen Großstadt. Unter den Augen ahnungsloser Passanten taucht eine zierliche Frau auf, deren letzte Minuten von einer Überwachungskamera in der Straße aufgezeichnet werden. Vertrauensvoll steigt sie ins Auto ihres Exmannes. Der Vater ihrer Tochter, der vorbestrafte Carlo Cosco. Das ist der letzte Moment, in dem Lea Garofalo lebend gesehen wird.« So steht es im Haftbefehl für die Brüder Cosco aus dem Jahr 2010.
Seit jenem 24. November 2009 fehlt jede Spur von Lea. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Denise bleibt allein zurück. Sie kehrt nach Petilia Policastro zurück. Nach Kalabrien, zu ihrer Verwandtschaft. Ihre Mutter fehlt ihr unendlich. Denise quälen die Bilder. In ihrem Kopf mischen sich schreckliche Szenen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehen ineinander über, fließen zusammen zu einem einzigen und entsetzlichen Alptraum. Sie studiert die atavistischen Verhaltensnormen der Mafia-Kultur, und ihr wird klar, warum ihre Mutter verschwunden ist. Verletzte Ehre. Durch Kollaboration befleckte Ehre. Ehre, die nur mit Blut wieder reingewaschen werden kann. In ihrer zerrissenen Seele fühlt Denise das Gewicht der Wahrheit. Die Wahrheit, weiß sie, kann viel Schaden anrichten. Aber Denise folgt ihr ungeachtet der Konsequenzen. Sie folgt ihr und flieht aus Petilia.
Im April 2010 verlässt sie Kalabrien. Die Brüder Cosco fürchten, dass Denise in die Fußstapfen ihrer Mutter treten könnte, fürchten, dass sie anfängt, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Sie beginnen mit Drohungen, um sie zur Rückkehr nach Petilia zu bewegen. Die verängstigte Denise gehorcht. Währenddessen kommen die Ermittler bei ihren Untersuchungen einen Schritt weiter. Mit Hilfe von Kronzeugen, allen voran Angelo Cortese, der ehemaligen rechten Hand von Nicolino »Manuzza« Grande Aracri. Den Staatsanwälten erzählt er, dass er 2003 im Gefängnis von Catanzaro zusammen mit der Haute Volée der ’Ndrangheta einsaß und während seines Aufenthalts dort auf Carlo Cosco traf. Dieser bat die übrigen Bosse um Rat und Hilfe. Darunter auch Cortese, der sich an verschiedene Planungen zur Ermordung Lea Garofalos erinnert.
»Ehrenmotive«, erklärt der Kronzeuge den Staatsanwälten. Und fügt noch ein wichtiges Detail hinzu. Er berichtet, dass Cosco die Absicht gehabt habe, den Körper der Toten in Säure aufzulösen, um ihr Verschwinden wie eine Flucht aussehen zu lassen. Säure, um jegliche Spur von Lea zu vernichten. Säure, damit nichts, aber auch gar nichts von Lea übrig bleibt. Säure, um ihren Körper und die Keime der Veränderung aus der rebellischen Aktion Leas zu vernichten. Die Säure als Metapher der zerstörerischen Kraft der ’Ndrangheta.
Denise erzählt den Staatsanwälten erschreckende Dinge. Über ihre Rückreise nach Petilia, bei der sie von ihrem Vater und Mörder ihrer Mutter, Carlo Cosco, sowie seinem Bruder und einer dritte Person namens Diego begleitet wurde, sagte sie: »Ich saß hinten und weinte in einem fort, während sie aus vollem Hals lachten.« Denise kann ihre Tränen während der ganzen Zeit dort nicht mehr stoppen. Es sind schreckliche Tage. Aber nur für sie. Bosse, Paten, Blutsbrüder setzen ihr normales Leben zwischen Spielautomaten, Partys, Gelächter, Beleidigungen der menschlichen Würde fort. Sie leben weiter für die ’Ndrangheta, als wäre nichts geschehen. Denise ist schockiert und angewidert. Sie ist völlig fertig und sucht nach Trost in den Erinnerungen. Sie träumt noch immer von einem normalen Leben.
Im Oktober 2010 werden die Brüder Cosco festgenommen. Sie werden angeklagt wegen des Mordes an Lea Garofalo. Außerdem werden sie beschuldigt, den Mord durch die Vernichtung des Leichnams – mittels Säure – vertuscht zu haben. Die Ermittler finden einen 50-Liter-Eimer. Aber die Säure hinterlässt keine Spuren.
Die Staatsanwaltschaft rekonstruiert das Verbrechen. Lea wird im Zentrum Mailands am Corso Sempione entführt und in einem Lieferwagen an die Peripherie von Mailand gebracht. In eine Lagerhalle, unweit der Autobahn Mailand-Meda. Dort warten schon Sergio und Giuseppe »Smith« auf sie, beides Brüder von Carlo Cosco. Sie haben den Lieferwagen angemietet, in dem Lea gefesselt und geknebelt liegt. »Von Cosco habe ich erfahren, dass Lea vergewaltigt
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