Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)
Welt gibt. Das habe ich von meiner Mutter. Das und vieles andere mehr. Grundlegende Wertvorstellungen, ohne die es mir nicht möglich gewesen wäre, zu überleben.
Nicht das Leben an sich ist ekelhaft, die Welt als Resultat schlimmster menschlicher Perversionen ist es. Die Träume sind der Motor unserer Handlungen. Ohne Träume, ohne die aus ihnen resultierenden Handlungen kann die Macht der Mafia niemals zerschmettert, besiegt oder einfach nur lächerlich gemacht werden. »Ein Lachen wird es sein, das euch beerdigt« heißt es bei uns. Ein Lachen, das ist meine Hoffnung, wird eines Tages die Mafia überwinden.
Nach Norden also, auf der Flucht vor dem vulkanischen Feuer meiner Heimat, das Träume und Leidenschaften zu Asche zerfallen lässt. Um sich dann, diesmal nicht als Opfer, sondern als Augenzeuge und Chronist von Mechanismen wiederzufinden, die ich nur zu gut kannte, die ich alle schon am eigenen Leib erfahren hatte.
2.
DIE EROBERUNG
Ein Tag Anfang Mai 1991. Ich schlendere mit meiner Familie durch die engen Gassen der Altstadt von Modena. Schmale Straßen, in denen der Atem der Geschichte spürbar ist und wo die Triumphgesänge der antifaschistischen Widerstandsbewegung des Zweiten Weltkriegs noch nachklingen. Ohne Ziel ziehen wir umher, um die Stadt kennenzulernen, um in jene Realität einzutauchen, die unseren neuen Lebensabschnitt prägen wird. Die Luft riecht hier anders, die Menschen bewegen sich mit ungebrochenem Stolz, die Geschäfte wimmeln von Kunden. Die Qualen unserer Vergangenheit scheinen langsam zu versickern.
»So ist es (wenn es Ihnen so scheint)«, wie es bei Luigi Pirandello heißt. Nichts ist so, wie es scheint. Aber das habe ich erst viel später verstanden. Anfang der neunziger Jahre war ich noch ein kleiner Junge von elf Jahren, der nichts wollte, außer endlich mal wieder glücklich zu sein. Von den Veränderungen des Wirtschaftssystems hatte ich nichts mitbekommen, die unermessliche Liquidität der Mafia-Organisationen war ein Phänomen, das außerhalb meines Horizonts lag. Dass die Mafia bereits seit den siebziger Jahren zum großen Schlag ausgeholt hatte und nicht nur die engen, einschränkenden Grenzen des Südens hinter sich gelassen hatte, sondern begonnen hatte, globale Strukturen aufzuziehen, war mir damals nicht klar. Längst waren einige der Bosse zu richtiggehenden Unternehmern geworden, skrupellosen Profiteuren, die in der Phase des entfesselten Kapitalismus ein offenes System vorfanden, dem sie ihre Regeln aufpressen konnten.
Modena schien uns der ideale Ort zu sein, um jene Normalität zu erleben, nach der ich mich so sehr sehnte. Aber die norditalienische Universitätsstadt war inzwischen eine der Melkkühe im Finanzsystem der Mafia geworden. Und so wachte ich nach diesem traumverlorenen Spaziergang am folgenden Morgen auf und wurde durch einen Zeitungsbericht ohne Vorwarnung brutal mit der überwunden geglaubten Vergangenheit konfrontiert. Mit einem Schlag wurde klar, wie doppelbödig die Realität hier im Norden war. Natürlich gibt es die bekannte, scheinbar intakte Oberfläche, wo Werte wie Solidarität, Produktivität, Hilfsbereitschaft, Transparenz und Legalität etwas gelten. Darunter erstreckt sich aber noch eine weitere Ebene, die, für die meisten unsichtbar, von Korruption, mafiösen Interessen, Drogengeld, verbreiteter Illegalität, Einschüchterungsversuchen und Attentaten geprägt ist.
»Schusswechsel zwischen Mafia-Angehörigen« lautet die Schlagzeile, die mein mühsam geformtes neues Weltbild ins Wanken bringt. Eine Schießerei hatte die nächtliche Ruhe der norditalienischen Provinzstadt erschüttert. Es war kein böser Traum, sondern bittere Realität. Zwei verfeindete Mafia-Gruppierungen hatten sich in der Via Benedetto Marcello, einer Sackgasse mitten in einem Neubaugebiet östlich der Altstadt, eine Schießerei geliefert. An diesem Tag wurde auch dem letzten Einwohner Modenas endgültig bewusst, dass die Camorra längst in ihrer Stadt angekommen war. Genauer gesagt, der Casalesi-Clan. Doch mit diesem Namen konnte man im Norden erst etwas anfangen, als
Gomorrha
, der dokumentarische Mafia-Roman von Roberto Saviano, 2006 zum Bestseller geworden war.
Die Hintergründe des bewaffneten Zusammenstoßes sind schnell erläutert. Im Anschluss an Meinungsverschiedenheiten war es unter Mitgliedern verschiedener Clans zum Streit gekommen, der in eine Spirale der Gewalt mündete und für zahlreiche Leichen sorgte. Im Zuge dieser Abrechnung wurde eine neue
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