Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)
machen.
»Es gibt welche, die hier den ganzen Tag bleiben. Auch Frauen. Die setzen sich morgens hin und gehen erst abends wieder. Die Arbeiter kommen nach Schichtende, hocken sich vor die Maschinen und bleiben viele Stunden. Und dann gibt es noch die Schlaumeier, die die Automaten mit allerlei Tricks dazu bringen wollen, all das verlorene Geld wieder auszuspucken«, antwortet er ohne Anzeichen von Mitgefühl.
Ich frage mich, warum er diese bescheuerten Geräte überhaupt aufgestellt hat, die noch dazu überhaupt nicht zur Einrichtung des Lokals passen. Als er plötzlich ernst wird, bemerke ich, dass ich wohl laut gedacht haben muss. Er fürchtet, dass mich jemand gehört haben könnte, und zischt mir ins Ohr: »Wenn’s nach mir ginge, wären diese Scheißdinger hier nie aufgestellt worden.« Seine Stimme zittert dabei ein bisschen. Ich verstehe. Verstehe dieses »Wenn’s nach mir ginge«, diese Passivität, mit denen er den Befehlen anderer folgt. Aus der Sichtweise derjenigen, die die Macht und Skrupellosigkeit verkörpern, nennt sich das »erlernte Angst«. Oder schlicht und einfach Mafia.
Der Glückspielmarkt gehört zu den expansiven Wirtschaftszweigen. 2009 wurden auf diesem Gebiet 55 Milliarden Euro umgesetzt, 2010 war ein Wachstum von 28 Prozent zu verzeichnen. Das Glücksspiel kennt keine Wirtschaftskrise, keinen Abschwung. Es kennt nur eine Richtung: das Mehr. Genau wie die Mafia-Organisationen. Sie sind es, die von diesem Business, das mit so viel Hoffnung handelt, den Löwenanteil übernommen haben. Seit dem 1. Mai 2004 sind die traditionellen Video-Poker-Maschinen in Italien verboten. Dafür haben die
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ihren Platz eingenommen. Die Zahl der Spielsüchtigen steigt. Dabei halten sich viele Betroffene gar nicht für süchtig. Spielsucht als Krankheitsbild wird auch von ärztlicher Seite nur selten wahrgenommen.
Die Auswirkungen der Sucht sind verheerend. Sie führt zur Verelendung vieler Menschen, zu Beschaffungskriminalität, zur absoluten Isolation der Süchtigen. Auf der anderen Seite wächst die Industrie, die die Spielsucht aktiv fördert, ohne Unterlass. Und die Mafia generiert mit den Süchtigen und ihrer verzweifelten Suche nach Glück zusätzliche Gewinne.
Angeliefert werden die Glücksspielautomaten auf Lastwagen der Clans. Die Gaststätten sind vorher sorgfältig ausgewählt worden, ihre Betreiber sind entweder Freunde oder Erpressungsopfer. Die Vertriebswege sind vielfältig. Sie kreuzen sich in Sizilien, Kalabrien, Kampanien. Firmen aus dem Bereich arbeiten vorübergehend mit Mafia-Organisationen zusammen. Es geht darum, die Spielsüchtigen so lange auszunehmen, bis sie keinen Cent mehr in der Tasche haben.
Domenico Bidognetti, Kronzeuge der Anklagebehörden, war der erste, der darüber sprach, wie schon die früheren Video-Poker-Maschinen den Kneipeninhabern aufgezwungen worden waren. Und wie das Geschäft schon vor 15 Jahren formell ganz legal von Casal di Principe bis nach Modena ausgeweitet werden konnte. Es war die erste Boomphase des legalen Glücksspiels. Aus dem Raum Caserta gingen die Video-Poker-Maschinen direkt in die Region Modena, unter der Kontrolle bekannter Mafia-Familien. Bidognetti hatte Mario Iovine und Alfonso Schiavone als die führenden Köpfe hinter der äußerst lukrativen Video-Poker-Aktion denunziert. Iovine ist der Cousin des legendären, 2010 nach langer Flucht endlich verhafteten Antonio »O Ninno« Iovine, Schiavone arbeitete lange Zeit als Gymnasiallehrer und stellvertretender Direktor einer Schule an der Küste von Baia Domizia bei Neapel.
Die Idee, in das Geschäft mit Video-Poker-Maschinen einzusteigen, stammt laut Bidognetti von Renato Grasso, einem Unternehmer aus Neapel, dem über Strohmänner unzählige Glücksspiel-Betriebe gehören sollen, dazu Wettannahmestellen und Bingohallen. »Seit 2005 hat Grasso, unterstützt von Angestellten und Familienangehörigen, systematisch Bingohallen vor allem in Norditalien aufgekauft, mit dem Ziel, dort die Glücksspielautomaten aufzustellen, die seinen Firmen gehören«, schrieb der Untersuchungsrichter des Gerichtshofs von Neapel in einer Urteilsbegründung aus dem Jahr 2009. Renato Grasso habe es mit seinem Bruder Francesco verstanden, strategische Bündnisse mit den vorherrschenden Clans in den Vierteln Neapels zu schließen und seine Arbeitsbeziehungen bis zum Gebiet von Aversa auszubauen. Dabei knüpfte er auch Verbindungen zum Casalesi-Clan. Zusammen mit Mario »Rififi« Iovine, der für die
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