Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)
ursprünglich aus Cutro (Kalabrien) stammen. Wenn man durch die Straßen und über die Plätze von Reggio Emilia schlendert, kann es einem häufig passieren, dass man den Dialekt von Cutro zu hören bekommt. Ein rauer, harter und zugleich reicher Dialekt, in den sich immer wieder die Erinnerung an die Armut und das Elend in jener Gegend mischt, die man vor langer Zeit verlassen hat und die sich schon viel zu lange in der Hand der Plünderer von der ’Ndrangheta befindet. Verzweiflung, Sehnsucht nach Neubeginn und Normalität trieben die Menschen aus Cutro in die Emigration. Daraus entwickelte sich eine Liebesgeschichte zwischen Cutro und Reggio Emilia, die von den Kannibalen der Träume und der Ressourcen Kalabriens bedroht wurde. Als die ’Ndrangheta-Clans sich dem Heer der ehrlichen Emigranten anschlossen, bemächtigten sie sich ihrer Träume und ließen diese langsam zerplatzen.
Inzwischen gibt es in Reggio Emilia eine veritable Bourgeoisie von Menschen, die alle aus Cutro stammen und als Handwerker oder Kleinunternehmer tätig sind. Diese stellt einen Magneten dar, der neue Ströme von Emigranten aus dem Süden anzieht. Ein Steuerberater aus Cutro, der sich dazu entschließt, ein Büro in Reggio Emilia zu eröffnen, kann sich von vornherein eines großen Kundenstamms sicher sein. Die Anwesenheit so vieler Emigranten, die den Aufstieg innerhalb der sozialen Hierarchien geschafft haben, hat auch die Lokalpolitik beeinflusst. Zu diesen Politikern zählen zahlreiche Vertreter der kalabrischen Gemeinde, viele von ihnen sogar in den vordersten Rängen der größten Parteien vor Ort – zuerst in der Partei der linken Demokraten, jetzt auch in der Demokratischen Partei. Für kurze Zeit gab es sogar wöchentlich drei Flüge von Reggio Emilia nach Crotone, die von der Fluggesellschaft
Air Emilia
angeboten wurden.
Zu Beginn der achtziger Jahre fanden sich die Mitglieder der kalabrischen Community in Reggio Emilia auf der Anklagebank wieder, zumindest was die Berichte von norditalienischen Medien für kurze Zeit betraf. Dies geschah aufgrund der Verfehlungen einer kleinen, aber öffentlichkeitswirksamen Minderheit, so als ob schon die Geburt in Cutro ausreichte, um als Mafioso zu gelten. Dieser aufflammende Rassismus war der Angst geschuldet, die aus den eskalierenden Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Clans aus Cutro resultierte, die in den neunziger Jahren ihre Fehden auch in Reggio Emilia austrugen. Blut verlangte neues Blut. Der Hass der verfeindeten Clans zog beide Städte in einen Strudel von Gewalttätigkeiten, an die sich sowohl die Alteingesessenen als auch die Zugezogenen mit Schrecken erinnern. Tatsächlich lag den Clans vor Ort in der Emilia-Romagna jedoch mehr an den einträglichen Geschäften als an der Austragung von Fehden.
12.
GUTE NACHT, »ROTE« EMILIA-ROMAGNA
Brescello, das von den Einheimischen ironisch gern auch »Cutrello« (dt.: Kleines Cutro) genannt wird, ist seit Jahren bevorzugter Wohnort von Mitgliedern des Grande-Aracri-Clans. Ein bedeutender Zweig dieser Mafia-Familie lebt in dem ruhigen, beschaulichen Ort im Hinterland von Reggio Emilia, an der Grenze zur Provinz Mantua. Nicolino Grande Aracri, das Oberhaupt des gleichnamigen Clans, der bereits auf 17 Jahre hinter Gittern zurückblicken kann, fühlte sich in Brescello sicher. Er hatte hier seine Brüder, Schwestern, Neffen und Freunde um sich.
Nach und nach wagte sich der Clan immer weiter vor und veränderte dabei das Angesicht des kleinen geschichtsträchtigen Ortes. Ihre Arroganz und ihre Allmachtsphantasien verführten die Mafiosi dazu, es zu übertreiben. So zum Beispiel 2003, als sie vom Betreiber des Cafés
Don Camillo
unter den ungläubigen Blicken der beiden Bronzestatuen von Don Camillo und Peppone plötzlich Schutzgeld verlangten. Schockiert schloss der Besitzer für einige Tage das Café und hängte ein Schild an die Tür, auf dem zu lesen war: »Geschlossen wegen mafiöser Drohungen und Schutzgelderpressung.« Statt der erwarteten Solidarität zog er sich jedoch – wie man in »Cutrello« erzählt – den Zorn des Bürgermeisters zu, demzufolge das Schild mit dem Hinweis auf die Mafia-Bedrohung das Ansehen des Ortes unwiderruflich beschädigt habe. Darüber hinaus wurde das Schild gestohlen.
In Brescello verläuft das Leben ansonsten in ruhigen Bahnen. In manchen Eigenarten gleicht der Ort Dörfern im Hinterland Kalabriens, wo alles unveränderlich seinen Gang zu gehen scheint. Nicht einmal die brutale
Weitere Kostenlose Bücher