Mafiatochter
in der Küche, und ich hatte mich in Tante Frans Zimmer hinaufgeschlichen, um unser Haus zu beobachten. Staunend hatte ich zugesehen, wie große schwarze Autos vorfuhren und Männer in Anzügen unseren Gartenweg entlangschritten. Besonders ein Mann erregte meine Aufmerksamkeit: Ein älterer, feiner Herr mit gekämmtem grauen Haar, groß und makellos gekleidet. Ich wusste sofort, dass er Papas Boss war, Paul Castellano.
Als ich am nächsten Morgen nach Hause zurückkehrte, fand ich auf dem Tisch in einem Zimmer, das für uns selbst in den Ferien tabu war, dem »Museumsspeisezimmer«, einen Teller übrig gebliebene Cannoli. Da wusste ich, dass am Abend zuvor etwas sehr Wichtiges stattgefunden haben musste. Ich stellte mir vor, dass mein Vater sein Haus für ein geheimes Aufnahmeritual zur Verfügung gestellt hatte, bei dem jemand »gemacht« worden war. Als ich ihn kürzlich im Gefängnis besuchte, erfuhr ich die wahre Geschichte. Bei dem Treffen war es um den Mord an dem Verbrecherboss Angelo Bruno aus Philadelphia gegangen. Die Leute aus Philadelphia hatten um ein Treffen mit Paul Castellano gebeten, um die Gunst der Familie Gambino zu gewinnen, und mein Vater hatte das Treffen ausgerichtet. Ich hatte nie den Mut gehabt, meinen Vater nach geheimen Dingen zu fragen, denn ich kannte und respektierte den Kodex: »Kümmere dich um deine eigenen Dinge und stell’ keine Fragen.«
Als ich nun im Fernsehen den Beitrag mit den von Kugeln durchsiebten, unter Decken verborgenen Leichen von Paul Castellano und seinem Unterboss sah, wusste ich bereits, dass Castellano der Boss meines Vaters im Baugeschäft war. Hastig eilte ich in die Küche, um zu sehen, ob Papa irgendwo war. Ich war auf fast seltsame Weise ruhig, als hätte ich Mord in meinem Leben längst akzeptiert. Irgendwie konnte ich immer besser damit umgehen, sorgte mich aber nichtsdestotrotz um Papas Sicherheit. Als ich in die Küche kam, stand Mama am Herd und bereitete das Abendessen zu.
»Glaubst du, Papa weiß das mit Paul«, platzte ich voller Angst heraus. Ich glaubte die Antwort schon zu kennen.
»Ganz bestimmt«, sagte sie mit ruhiger, fester Stimme. »Es ist in sämtlichen Nachrichten.«
Es wurde immer schwieriger für mich, Mama ihre beruhigenden Worte abzukaufen. Paul war der zweite meinem Vater nahe stehende Mensch, der in den letzten neun Monaten erschossen worden war. Erst Stymie, jetzt Paul.
Nach Castellanos Tod kam mein Vater nicht nach Hause. Er blieb über zwei Wochen lang verschwunden. Er hielt sich mit Frankie DeCicco, der nunmehr zum Unterboss aufgestiegen war, an einem sicheren Ort versteckt, doch das wusste ich nicht. Ich dachte, er sei vielleicht im Urlaub in Florida. Ich hatte keine Ahnung, bei wem er war. Ich wusste jedoch, dass er nicht mit Onkel Eddie zusammen war, weil dieser regelmäßig bei uns vorbeischaute und sich nach mir, Mama und Gerard erkundigte. Wie üblich sagte meine Mutter, ich solle mir keine Sorgen machen, verlor jedoch kein Wort darüber, wohin Papa gegangen war oder wann er wiederkäme.
Ich hatte Angst, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte, aber ich versuchte, nicht darüber nachzudenken. Ich konnte unangenehme Dinge recht gut ausblenden. Vielleicht lag das daran, dass mir Papa als Kind stets das Gefühl gegeben hatte, alles wäre in Ordnung, und ich ihm glaubte. Ich dachte, was auch immer geschähe, er würde schon durchkommen. Trotzdem konnte ich nicht anders, als mir von Zeit zu Zeit Sorgen zu machen. Ich hatte so große Angst, dass ich nicht einmal in der Lage war, das Offensichtliche zu denken: dass Papa unterwegs war, den Mord an Paul zu rächen, oder, schlimmer noch, dass er selbst daran beteiligt gewesen war. In meinem Zimmer konnte ich hören, wenn die Garagentür geöffnet wurde. Jede Nacht lag ich wach und hoffte, sein Auto einfahren zu hören.
Ich bekam das Bild von Paul Castellano, der in einer Blutlache auf der Straße lag, einfach nicht aus dem Sinn. Ich fürchtete, genau dasselbe könnte meinem Vater zugestoßen sein. Onkel Nicky, der Bruder meiner Mutter, war einfach »verschwunden«, als ich sechs war. Seine Leiche wurde nie gefunden, aber ich hörte einmal, wie ein Familienmitglied sagte, es sei eine Hand von ihm aufgetaucht. Der Tod meines Onkels belastete mich so sehr, dass ich ihn vollkommen ausblendete und mich zu denken weigerte, meiner Familie könnte jemals wieder ein ähnliches Unheil widerfahren. Das war jedoch nur ein schwacher Trost. Die gesamte Familie Scibetta betrauerte den
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