Mafiatochter
Verlust von Onkel Nicky, allen voran meine Großmutter.
Endlich erschien mein Vater eines Morgens in der Küche. Er hatte eine zusammengefaltete Zeitung unter dem Arm, die er lässig auf den Tisch warf.
»Setz dich«, sagte er und schlug die New York Daily News auf. Darin war ein Bild von meinem Vater, und ich wusste sofort, dass er mir einen Artikel über den Mord an Paul Castellano zeigte.
»Ich möchte, dass du das liest«, sagte er.
Mein Vater stand hinter mir, als ich den Artikel überflog, in dem alle schrecklichen Details standen, die ich wissen wollte, nach denen ich bislang aber lieber nicht gefragt hatte.
In dem Text wurde Sammy Gravano als »aufgehender Stern der Mafia« bezeichnet, als Auftragskiller der Familie Gambino, der mächtigsten der fünf New Yorker Mafiafamilien. Es hieß, John Gotti sei Sammys Boss und dass Sammy als einer derjenigen gelte, die innerhalb der Familie weiter aufsteigen und eine Spitzenposition erreichen würden. Nach Castellanos Ermordung sei die Familie unter neuer Führung. Es komme daher zu Machtkämpfen, und viele Positionen verschöben sich. Den Namen John Gotti hatte ich noch nie gehört.
»Glaubst du alles, was du liest?«, fragte mich mein Vater, als ich schließlich wieder aufblickte.
Ich zuckte mit den Schultern und sagte, ich wisse nicht, ob ich es tun solle oder nicht.
Er beugte sich vor, sah mir in die Augen und sagte: »In dem Artikel hier steckt ein wahrer Kern.« Er ging nicht ins Detail. »Du kannst mich ruhig etwas fragen. Es gibt ein paar Dinge, die ich beantworten kann, und ein paar Dinge, die ich nicht beantworten kann, weil sie geschäftlich sind.«
Mit vierzehn musste ich als Heranwachsende also damit fertig werden, dass meine Familie Teil einer finsteren Unterwelt war. Andere Mädchen machten sich Gedanken um ihre Kleider, ihre BH-Größe, ihre Schularbeiten und Jungs, ich hingegen versuchte damit klarzukommen, dass mein Vater bei der »Mord GmbH« tätig war.
In den folgenden Monaten stellte ich fest, dass man meinem Vater noch größeren Respekt entgegenbrachte. Menschen schüttelten ihm die Hand, der kleine Stab um ihn herum festigte sich, er bekam einen Fahrer und verpasste seiner Garderobe eine Runderneuerung. Mir fiel dieser Wandel sofort auf, als er in ein Geschäft an der 18th Avenue in Brooklyn Hemden und Krawatten kaufen ging. Er musste sich für sein Treffen mit John Gotti gut anziehen und in die Rolle des consigliere hineinwachsen, des Dritten in der Rangfolge. Er kam mit auffälligen, modischen Krawatten nach Hause: rot, schwarz und grell; richtige John-Gotti-Krawatten, dachte ich. Mein Vater warf sich nicht gerne in Schale, aber er kaufte zehn Anzüge in dem Laden. Er hielt sich gern fit und trieb Sport. Er begeisterte sich fürs Boxen, aß gesund und nahm kein Salz zum Essen. Er wollte, dass wir alle mehr auf unsere Gesundheit achteten.
Mir gefiel sein neuer Look. Ich fand, dass er gut darin aussah. Ich sagte zu ihm: »So solltest du immer rumlaufen, Papa. Ich finde, du siehst klasse aus.« Er lächelte nur. Ich glaube, es tat ihm gut. Ich denke aber nicht, dass er allzu viel darauf gab, was ich sagte. Mein Vater kümmerte sich nicht besonders um persönlichen Stil. Viel mehr beschäftigte ihn seine neue Rolle innerhalb der Familie Gambino.
Wenn mein Vater, der Inhaber einer Baufirma, nun zu einem Treffen mit dem »Boss« ging, trug er Designeranzüge und -krawatten. Offensichtlich waren seine üblichen Jogginganzüge und Turnschuhe für jemanden in seiner neuen Position nicht angemessen. Papa war nicht der Einzige, der bevorzugt behandelt wurde. Vor der gesamten Familie rollte man den roten Teppich aus. Wenn wir zum Essen ausgingen, was wir oft taten, holte uns ein Fahrer in einem Lincoln Town Car ab. Der Chefkellner begrüßte uns mit Namen und geleitete uns an einen der besten Tische.
Wenn wir Tante Fran und Onkel Eddie in Bulls Head besuchten, waren wir fast so etwas wie Stars. Die Kinder zeigten auf uns und flüsterten: »Das ist Sammys Tochter.« Sie hatten keine Angst vor mir, also nahm ich an, dass sie neidisch waren. Mir gefiel diese neue Aufmerksamkeit, ich fühlte mich als etwas Besonderes. Alle in diesem Viertel schienen auf einmal Gangster sein zu wollen. Sie waren besessen von dem Mordanschlag an Paul Castellano, der fast wie eine Szene aus einem Hollywood-Film gewirkt hatte. Es hieß, mein Vater habe ihn zu verantworten. Aber hatte er wirklich mitten in der Hauptverkehrszeit jemanden umgebracht und war damit
Weitere Kostenlose Bücher