Mafiatochter
jenem Abend begriff ich zum ersten Mal, worum es bei der Cosa Nostra wirklich ging: Um eine altertümliche Loyalität, darum, sich um der größeren Sache Willen für eine neue Familie zu entscheiden und diese über die eigene Familie zu stellen.
Als ich an jenem Abend zu Bett ging, hatte ich Alpträume von Zyankali. Ich spürte, dass einige Leute, die bislang Freunde der Familie gewesen waren, nun zu unseren Feinden zählten, wusste aber nicht genau, wer. Noch nie hatte ich mich zu unserem Schutz auf Mama verlassen müssen, doch jetzt war sie zum ersten Mal am Ruder, unter widrigsten Bedingungen, mitten in einem tosenden Sturm.
Als ich am nächsten Morgen die Schlagzeile in der New York Post las, bekam ich den Schock meines Lebens: Unter der Überschrift »R.I.P.« waren die Namen von Papas neunzehn Mordopfern auf Grabsteinen abgebildet. Sammy the Bull, mein Vater, hatte neunzehn Menschen umgebracht. Dort, auf jener Titelseite, erfuhr ich endlich, was mein Vater all die Jahre tatsächlich getan hatte. Während meiner gesamten Kindheit hatte ich kleine Hinweise darauf bekommen, dass im Hause Gravano nicht alles ganz mit rechten Dingen zuging, und viel Zeit damit verbracht, diese einzelnen Puzzleteilchen zusammenzusetzen. Vielleicht hätte es mir klar werden sollen, als Papa zum ersten Mal in die Schlagzeilen der Post kam, aber damals war ich noch ein Kind.
Ich starrte stundenlang auf die Titelseite. In dem Artikel hieß es, die Morde hätten bereits vor meiner Geburt begonnen. Der letzte sei gerade zwei Jahre her. Auf den Grabsteinen standen Namen, von denen ich einige als einstige Freunde der Familie wieder erkannte, etwa Louie Milito und Mikey DeBatt.
Louies Tochter Dina war eine Freundin von mir. Ich erinnerte mich sogar daran, wie es war, als ihr Papa auf einmal nicht mehr nach Hause kam. Damals kam Dina zu uns nach Hause und bat meinen Vater unter Tränen, ihn doch suchen zu helfen. Papa und Louie waren ihr gesamtes Leben lang befreundet gewesen. Mikey DeBatt war Papas Springer in der Plaza Suite und am Attentat auf Fiala beteiligt gewesen. Doch seine Kokainsucht machte ihn zu einem Risiko. Auch die Details der Morde an Paul Castellano und Frank Fiala waren in dem Beitrag abgedruckt. Papa hatte nicht selbst auf Fiala geschossen, aber den Mord geplant und auf seinen Leichnam gespuckt.
Aus dem Zeitungsartikel erfuhr ich, dass das Attentat auf Paul Castellano eine von John Gotti arrangierte Mafia-Hinrichtung gewesen war. Gotti hatte befürchtet, Paul könnte ihn töten, weil Johns Leute hinter Pauls Rücken Drogen verkauften. Ein vierköpfiges Killerkommando in braunen Trenchcoats und schwarzen Russenmützen hatte den Auftrag ausgeführt. Castellano saß in seinem Wagen und war auf dem Weg zu einer Besprechung beim Abendessen im Sparks Steak House. Papa und John Gotti parkten gegenüber vom Restaurant in Johns Lincoln und warteten auf Paul. Auf dem Bürgersteig hielt sich ein zweites Killerkommando für den Fall bereit, dass die ersten vier Schützen ihr Ziel verfehlten. Mein Papa war ebenfalls ein Ersatzschütze, doch die Exekution verlief reibungslos, alle entkamen, und John wurde der neue Boss.
Wieder und wieder las ich die Namen auf den neunzehn Grabsteinen. Zu meinem großen Entsetzen trug einer davon den Namen des Bruders meiner Mutter, Nicky Scibetta.
Jahrelang hatte ich geglaubt, mein Onkel wäre einfach verschwunden, geflüchtet und untergetaucht. Später erfuhr ich, dass man seine Hand gefunden hatte, und wir alle nahmen an, dass er tot sei. Onkel Nickys Tod war der erste Verlust, mit dem ich je konfrontiert wurde. Bis heute habe ich ihn nicht ganz verwunden. Er stand mir sehr nahe. Wir gingen immer zusammen in den Park, oder er nahm mich mit zum Nellie Bly Amusement Park in der Nähe des Hauses meiner Großeltern in Brooklyn, wo wir Karussell fuhren.
Ich versuchte, nicht daran zu denken, was mit ihm geschehen sein könnte. Selbst, nachdem meine Familie einen Trauergottesdienst für ihn abgehalten hatte, malte ich mir weiterhin aus, dass er eines Tages zu uns nach Hause zurückkehren würde. Seinen Tod hatte ich immer ausgeblendet, weil ich ihn als zu schmerzlich empfunden hatte. In der Familie sprachen wir eigentlich nie über Onkel Nickys Verschwinden. Nun stand in der Zeitung, dass mein Vater seine Hände dabei im Spiel gehabt hatte, und ich wusste nicht, wie ich mich fühlen sollte.
Zunächst war ich extrem wütend und beschimpfte ihn, als er anrief. Ich wollte nicht mit meiner Mutter
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