Mafiatochter
Diese Fähigkeiten waren angeboren, doch hatte er sie bei der Mafia noch geschärft. Es war seine Überlebensstrategie: Er konnte Menschen blitzschnell und ganz nüchtern analysieren.
Papas Wohnung hatte nur ein einziges Schlafzimmer, also überließ er Lee dieses Zimmer. Er und ich schliefen im Wohnzimmer, er auf der Couch und ich in einem großen Sessel. Er hatte bereits einen recht guten Einblick in Lees Lebensumstände, weil er selbst einmal so angefangen hatte. Er wusste, dass Lee ein Straßengangster war, erkannte aber auch, dass er mit dem organisierten Verbrechen nicht viel am Hut hatte. Lee war eher ein Cowboy, er war unbezähmbar und wollte nichts und niemandem verpflichtet sein.
Doch Papa wollte wissen, wie Lees Pläne für die Zukunft aussahen. War er gewillt, seine Verbindungen nach New York abzubrechen, um mit mir zusammenzuleben? Papa erzählte Lee, dass er plane, aus dem Zeugenschutzprogramm auszusteigen. Seine Familie habe beschlossen, nicht an dem Programm teilzunehmen, also habe er ebenfalls kein Interesse mehr daran. Er wolle nach Arizona gehen, sich dort im Hintergrund halten und dafür sorgen, dass es seinen Kindern gut gehe. Seine wahre Identität solle freilich ein Geheimnis bleiben. Nach dem geplanten Mord an Gerard habe er sich geschworen, die Familie zu schützen, auch, wenn er dabei selbst ein Risiko eingehe. Natürlich gefielen meinem Vater auch die Einschränkungen nicht, die das Zeugenschutzprogramm mit sich brachte – so konnte er sich etwa nicht nach Belieben frei bewegen. Es gab zu viele Regeln und Vorschriften, die er nicht befolgen wollte. Er hatte Geld auf der hohen Kante und wollte es dazu verwenden, der Familie zu helfen, damit wir einmal auf ganz legale Weise unseren Lebensunterhalt verdienen könnten. Er war ein ebenso guter Geschäftsmann, wie er ein Gangster war. Er war bereit, sein Leben in Ordnung zu bringen, und gewillt, Lee zu helfen, wenn er mit mir zusammenblieb.
Er sagte: »Wenn du mit meiner Tochter zusammen bist, würde ich dich gerne unterstützen. Du kannst es zu etwas bringen. Ich kann dir helfen, ein erfolgreicher Geschäftsmann zu werden.«
Lee willigte ein. Unser letzter Abend in Boulder verlief besser, als ich es erwartet hatte. Lee und mein Vater schienen sich gut zu verstehen, was mich sehr erleichterte. Wir waren den ganzen Tag über unterwegs gewesen, die letzten vier Tage hatten emotional an meinen Kräften gezehrt, und ich war müde. Die Männer wollten noch nicht ins Bett gehen, also ging ich ins Schlafzimmer, um mich hinzulegen. Lee und mein Vater blieben im Wohnzimmer sitzen und unterhielten sich.
Als ich schlief, redete Papa mit Lee Klartext: »Ich bin kein Penner und auch kein Idiot«, sagte er. »Ich hatte nie Angst vor dem Gefängnis. Ich habe nicht kooperiert, weil ich Angst hatte. Ich mache keine halben Sachen. Ich habe vielleicht der Mafia den Rücken gekehrt, aber das hat keinen anderen Menschen aus mir gemacht.«
Mein Vater ließ Lee wissen, dass er plane, nach Arizona zu ziehen – und sollte jemand nach Arizona kommen, um seiner Familie oder einer ihm nahe stehenden Person etwas anzutun, würde es Krieg geben. Bevor mein Vater Lee akzeptieren konnte, musste er sicher sein, auf welcher Seite er stand. Papa nahm den Schutz seiner Familie und anderer geliebter Menschen sehr ernst; außerdem hatte er ein gutes Gespür für die Loyalität von Menschen, und nun stellte er Lee auf die Probe. Papa konfrontierte ihn mit der hypothetischen Frage, ob er bereit sei, für ihn zu morden, wenn er es von ihm verlange. Auf diese Weise stellte mein Vater fest, dass Lee zwar ein Straßengangster und Krimineller war, aber kein Mörder.
Ich erfuhr von alledem erst vier Monate später, aber ich glaubte nicht, dass Lee beabsichtigte, meinen Vater oder mich hinters Licht zu führen. Trotzdem denke ich, dass er die Unterhaltung mit Papa unangenehm fand. Ich glaube, Lee begriff, dass Papa zwar kooperiert hatte, aber immer noch derselbe alte Sammy war, der vor nichts zurückschreckte, wenn es um den Schutz seiner Familie ging.
Am nächsten Morgen flogen Lee und ich zurück nach Phoenix. Lee entfernte sich danach irgendwie von mir. Ich dachte, es läge einfach daran, dass er in Arizona nicht glücklich wurde. Er hatte Schwierigkeiten, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, wenn er nicht in New York war. Er flog bereits zwischen New York und Phoenix hin und her und erwähnte häufig, dass er sich danach sehne, dauerhaft nach Staten Island zurückzukehren.
Ich
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