Magazine of Fantasy and Science Fiction 02 - Das letzte Element
saß er in seinem Büro und wartete, denn er hatte sonst nichts zu tun. Starling mußte sich vorher jedesmal einer physischen Untersuchung unterziehen. Bisher war dabei jedoch noch nie etwas herausgekommen. Aber bei den Psychologen war es ja schließlich das gleiche. Nichts Besonderes zu verzeichnen. Es war alles in Wills Gedanken. Oder in Starlings. Aber wenn es in Starlings Gedanken war, dann wußte er selbst nichts davon.
Er kannte Starlings Geschichte schon fast auswendig – sie war in einem dicken Ordner zusammengefaßt, der schon ziemlich abgegriffen und mit vielen Kommentaren von ihm selbst und Daventry versehen war. Trotzdem ging er noch einmal bis ganz zum Anfang zurück, in die Zeit vor fünf Monaten und einer Woche, als Starling nur eine der sechs männlichen und sechs weiblichen Versuchspersonen war, die sich zur Verfügung gestellt hatten, Dements Theorie mit besseren und komplizierteren Geräten noch einmal zu bestätigen.
Da waren Aufzeichnungen von Träumen mit Freud'schen Kommentaren, die auf ihre begrenzte Art sehr aufschlußreich waren, aber keinen Hinweis auf das erstaunlichste Geheimnis gaben – daß Starling ohne Träume auskommen konnte.
Ich bin auf einem Bahnhof. Menschen kommen und gehen zur Arbeit. Ein großer Mann nähert sich mir und fragt nach meiner Fahrkarte. Ich versuche zu erklären, daß ich noch keine gekauft habe. Er wird wütend und ruft einen Polizisten, aber der Polizist ist mein Großvater. Ich kann nicht verstehen, was er sagt.
Ich unterhalte mich mit einem meiner Schullehrer, Herrn Bullen. Ich bin sehr reich und bin hierhergekommen, um meine alte Schule zu besuchen. Ich lade Herrn Bullen ein, mit mir in meinem Auto zu fahren, das groß und neu ist. Beim Einsteigen geht der Türgriff ab. Er hält ihn in der Hand. Die Tür geht nicht zu. Ich kann den Motor nicht anlassen. Das Auto ist alt und mit Rost bedeckt. Herr Bullen ist sehr böse, aber das macht mir nicht viel aus.
Ich bin in einem Restaurant. Die Speisekarte ist in französischer Sprache, und ich bestelle etwas, das ich nicht kenne. Als es kommt, kann ich es nicht essen. Ich rufe den Geschäftsführer, um mich zu beschweren. Er hat eine Matrosenuniform an. Das Restaurant befindet sich auf einem Schiff und schaukelt so, daß es mir schlecht wird. Der Geschäftsführer sagt, er will mich in Ketten legen. Die Leute im Restaurant lachen mich aus. Ich zerbreche die Teller, auf denen das Essen serviert ist, aber es ist nichts zu hören, und niemand achtet darauf. Deshalb esse ich die Speisen am Ende doch.
Das letztere war genau das, was man von Starling erwarten würde, dachte Wills. Am Ende aß er die Speisen doch – und sie schmeckten ihm.
Dies waren Auszüge aus der Versuchsperiode – aus der Woche, in der seine Träume und die der anderen Versuchspersonen aufgezeichnet wurden, um mit späteren verglichen zu werden. In allen anderen elf Fällen war das zwischen drei und dreizehn Tagen später gewesen. Aber bei Starling –
Die Träume paßten bewundernswert genau zu Starling. Unglücklich, beschränkt, enttäuscht war er durchs Leben gegangen, und folglich gingen auch seine Träume für ihn schief aus, manchmal durch Einwirkung von Autoritätsfiguren aus seiner Kindheit, so wie sein verhaßter Großvater und der Lehrer. Es schien, als kämpfte er nie; als wehrte er sich nie – er aß die Speisen am Ende doch.
Kein Wunder, daß er es zufrieden war, mit Daventrys Experiment weiter zu machen, dachte Wills finster. Mit freier Kost und Unterkunft, ohne Probleme von außen her, fühlte er sich wahrscheinlich wie im Paradies.
Oder in einer Art erfreulicher Hölle.
Er schaltete die Träume der anderen Versuchspersonen ein – derjenigen, die nach ein paar Nächten aufgeben mußten. Die Aufzeichnungen aus ihrer Versuchswoche zeigten ohne Ausnahme sexuelle Neigungen, dramatische Ergebnisse irgendwelcher Probleme, positive Ausgänge persönlicher Schwierigkeiten. Nur Starlings Träume endeten stets mit einer völligen Niederlage und Aufgabe.
Nicht daß er äußerlich unzulänglich gewesen wäre. Wenn man die Enttäuschungen in Betracht zog, die er zuerst durch seine Eltern erlebt hatte, dann durch seinen tyrannischen Großvater und seine Lehrer, dann hatte er sich eigentlich recht gut angepaßt. Er war sanftmütig und ziemlich schüchtern; er lebte bei seiner Schwester und deren Mann, aber er ging einer recht angenehmen Arbeit nach und hatte einen kleinen, beständigen Kreis von Bekannten, die er
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