Magazine of Fantasy and Science Fiction 12 - Die letzte Stadt der Erde
keine Treppen. Innen war das Gebäude hohl wie eine leere Muschel, eine einzige, riesige Halle von oben bis unten. In der Mitte jedoch stand ein Turm aus blinkendem Metall, fast vierzig Meter hoch. Auch in die Erde hinein ragte er vierzig Meter tief.
Es war ein Turm, der alles überdauern würde. Selbst wenn die Tarnung, das eigentliche Gebäude, längst zu Staub zerfallen war, würde er noch immer stehen. Alex Norfolk konnte es sich gut vorstellen. Wenn die ganze Stadt nur noch aus Ruinen bestand, vielleicht die ganze Welt, dann würde dieser Turm wie ein warnend erhobener Finger in den Himmel zeigen. Regen oder Schnee, Kälte oder Hitze – das alles konnte ihm nichts anhaben, denn er war für die Ewigkeit gebaut. Und so sollte es auch sein. Wenn die Zeit gekommen war, würde man ihn nicht übersehen. Wie ehemals die Pyramiden würde er die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, Rätsel aufgeben – und schweigen. Bis man das Archiv fand. Es würde nicht schweigen, sondern reden.
Und dann ...
Ja, dann würden sie genausoviel wissen wie er jetzt.
Viel war es nicht. Wenigstens nicht genug. Aber mit dem, was sie bereits wußten, würde sich ein Bild ergeben. Man würde wissen, was geschehen war und was nun zu geschehen hatte.
Alex Norfolk seufzte. Er fühlte sich nicht alt, weder körperlich noch seelisch. Seine Gedankengänge waren logisch und scharf wie immer, aber das war ein subjektives Urteil. Geistig jedoch, wenn man es so ausdrücken durfte, war er müde geworden. Die Jahre lasteten auf ihm.
Wenn er sich seiner Sache doch nur sicher wäre ...!
Er streckte sich. Selbstmitleid war ein Zeichen von Senilität. Zum Teufel damit! Er wußte, was er zu tun hatte. Jetzt durfte ihn nicht der Mut verlassen, sonst würde er versagen.
Er betrat den Tunnel, der ins Archiv hinabführte. Es gab hier keine Treppen, sondern der Boden senkte sich einfach schräg nach unten. Das Archiv sollte, wenn man es einst entdeckte, leicht zu erreichen sein. Auch von solchen, die keine Füße besaßen und keine Stufen kannten.
Alex dachte über Earl Stuart nach. Schade, daß er ihn nicht kannte. Heimlich wünschte er ihm alles Gute. Ob Earl wirklich nicht wußte, wer er war?
Das Archiv lag tief unter der Erdoberfläche.
Als das Morgenrot den östlichen Himmel färbte, landeten die Schlitten. Earl Stuart stieg als erster aus, das Gewehr in der Hand.
»Von hier an gehen wir zu Fuß«, sagte er. »Es sind nur ein paar Kilometer.«
Doc Ochoa kratzte sich in den Bartstoppeln.
»Die Mütter sind müde«, gab er zu bedenken. »In den letzten beiden Tagen haben sie kaum geschlafen.«
»Dann wissen sie wenigstens für das nächste Mal Bescheid, Doc. Gib ihnen noch Tabletten. Wir dürfen uns hier nicht zu lange aufhalten, sonst besteht die Gefahr, daß man uns entdeckt. Und dann können wir wochenlang suchen, ohne etwas zu finden. Wenn wir uns beeilen, können wir sie aber in den Höhlen überraschen, ehe sie aufwachen. Ich gehe mit den Männern vor. Wenn die Mädchen hier warten wollen – mir soll es recht sein.«
»Rücksichtsvoll bist du gerade nicht, Earl.«
»Das habe ich schon oft gehört.«
Er wartete die Antwort nicht ab, sondern marschierte einfach los. Er sah sich auch nicht um, ob ihm jemand folgte. Er ging langsam, damit sie ihn einholen konnten – und er wußte aus Erfahrung, daß sie nicht zurückbleiben würden. Ohne den Führer waren sie hilflos, und er hatte dafür gesorgt, daß es außer ihm keinen Führer durch das unbekannte Land gab.
Noch herrschte Zwielicht, aber er konnte gut sehen. Vor ihnen senkte sich gerade die grasbedeckte Ebene einem Fluß entgegen. Auf der anderen Seite stieg das Gelände an. Dort gab es Felsen. Und in den Felsen waren die Höhlen.
Es bestand keine Gefahr, bis sie den Fluß überquert hatten.
Earl spürte den frischen Wind im Gesicht. Er roch nach Erde und Blumen. Aber was wichtiger war: er kam ihnen entgegen. Die Wilden konnten sie nicht wittern.
Er fühlte sich wohl und frei. Er mußte sich beherrschen, um langsam weiterzugehen. Am liebsten wäre er jetzt gelaufen, so übermütig machte ihn die Gewißheit, frei zu sein und zu leben. Es war nicht allein die Aussicht auf das bevorstehende Töten, die ihn so aufgeregt sein ließ. Es war vielmehr der Wind, die Freiheit, der Himmel und das Wissen um die Verantwortung, die er sich selbst auferlegt hatte. In der Stadt war er nichts und niemand. Hier aber war er ein Mann.
Wirklich, ein gutes Gefühl.
Earl Stuart war alles andere als dumm,
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