Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
tanzte Rumba.
So heiß wie dieser Sommer war kaum einer. Lukas erzählte von Hitzefrei, von Schulausflügen ins Grüne. Er hatte jetzt einen Kassettenrecorder und nahm ihn, obgleich er ziemlich schwer war, im Rucksack mit, um für mich kleine Reportagen zu machen. Die allerersten Töne, die er schickte, stammten aus dem Basler Zoo. Ein Vogelgekrächze war drauf, man hörte einen Eismann bimmeln, und «schmatzende Löwen. Aber da musst du ganz genau hinhören, Mama», sagte er ins Mikrophon.
In den Ferien schlugen Konrad und Lukas sich zusammen in Sonnenmatt durch. Bei ihren Besuchen erzählten sie, was sie zu Hause taten und miteinander erlebten. Keiner von beiden konnte kochen, es war außerdem Einmachsaison, lauter neue Dinge, die sie bewältigen mussten. Wer zuerst aufwachte, weckte den anderen, beim ersten Sonnenstrahl waren sie oft schon draußen. Pflanzen wässern, den ganzen Tag schufteten sie wie verrückt, der Garten verlangte alle Aufmerksamkeit, sodass sie nicht zum Nachdenken kamen. Spätabends haben sie noch Bohnen abgezipfelt, blanchiert und in Gefrierbeutel gefüllt. «Nicht warm einfüllen, Papa.» Lukas erinnerte sich, was er bei mir gelernt hatte. Er führte in Haushaltsdingen meist die Regie. Dreizehn Jahre war er, in der Ilvesheimer Zeit war er eher ein Mama-Kindle gewesen. Ohne diesen besonderen Sommer wäre Konrad vielleicht nicht der Mentor für ihn geworden, der er später wurde.
«Ich lerne richtig Orgel, Mama!» Immer wieder sprach er davon, nach den Sommerferien sollte es endlich losgehen. Seit Lukas in Waldkirch war, einem Kreisstädtchen im Elztal, nordöstlich von Freiburg, war er aufgeblüht. Er wohnte im dortigen Sehbehindertenheim, das unter Aufsicht des liebenswürdigen Herrn Glaser stand, und lernte auf einem ganz normalen Gymnasium. Gleich zu Anfang hatte er den Schlüssel zur Orgel der Stadtkirche erobert, dort durfte er so lange und so oft, wie er wollte, spielen. Jetzt also, im September, sollte seine Zeit als Autodidakt enden und der Unterricht beginnen: Privatstunden bei einem jungen Musikamateur, einem begnadeten, wie es schien. Bei seinen nächsten Wochenendbesuchen in der Müllheimer Klinik schwärmte er von ihm.
«Der lässt mich improvisieren!»
«Was spielst du?»
«Bach, natürlich Bach, Mama.» Bach war das Größte für ihn, ist es noch.
«Nach Noten?»
«Ja, auch.»
Anscheinend entwickelte sich alles wie von selbst. Ziemlich schnell hat er ganz normale gedruckte Notenblätter lesen können. Mit Hilfe seines Lehrers tüftelte er ein schwenkbares Gestell aus, das wir dann von unserem Sonnenmatter Dorfschlosser ausführen ließen. Damit konnte er sich die Noten ganz nahe ans Auge führen, bis auf zwei Zentimeter, wie er es brauchte. Er war wieder der selbständige, vorwärtsdrängende Bub, den wir kannten. Sogar Jobs hatte er, mit seinen noch nicht ganz vierzehn Jahren. Mittags nach der Schule fand er kleine Zettel an seinem Platz im Speisesaal, die ihn zu Organisten-Diensten riefen. «Leichenhalle 1, 13.45». Um 17 Uhr hatte er in der Leichenhalle 2 zu sein oder zur Abendandacht in der Stadtkirche. Zwischendurch büffelte er Lateinvokabeln oder Mathe auf der Empore.
«Sankt Martin hat vielleicht eine tolle Orgel!» Wieder war von einer anderen Kirche die Rede, auf einem Dorf. «Und Sankt Georg erst.» Mit seinem Lehrer, erzählte Lukas, grase er das ganze Elztal ab und klettere auf Orgelemporen herum. Ihn interessierte jetzt, wie Orgeln gebaut werden, das Gehäuse, Pfeifen, Pedalwerk, und warum sie so klingen, wie sie klingen. Manchmal hatte er eine auf Kassette und spielte die in meinem Krankenzimmer ab.
«Ich darf zur Gesellschaft der Orgelfreunde, ab vierzehn nehmen die mich auf.»
Mit Spannung wartete ich, Woche für Woche, auf Neuigkeiten. Wie geht es weiter? Das durfte ich nicht verpassen, sterben konnte ich immer noch. Lukas’ Orgelgeschichten waren ein Zaubertrank, auch in späteren Jahren und heute noch. Wo spielt er? Was forscht er? In seiner Studienzeit in München hat er am bayrischen Orgelatlas mitgewirkt, bei seinen Besuchen in Sonnenmatt schilderte er uns begeistert, was er gerade beim Herumturnen auf Dorforgeln erlebt hatte, was er in den Archiven über sie gefunden hat. Im Laufe der Zeit hat er Hunderte von Orgeln kennengelernt, gehört vor allem, zum Teil auch gespielt, viele auf Reisen mit der Orgelgesellschaft.
Von unterwegs schickte er meist eine Kassette mit Impressionen: «Hey, Magdalena, das sind die Glocken von Uppsala. Und jetzt
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