Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
aufgehoben. Einmal hat sie gewagt, mit zwölf Kindern einen Ausflug zum Mannheimer Maimarkt zu machen. Jedes, das noch ein kleines bissle sah, bekam links und rechts ein vollblindes angehängt, zu Fuß marschierten sie zur Bahn. Die Kleiderschrankmama vorneweg, einsteigen, aussteigen, umsteigen. Die hat natürlich Blut und Wasser geschwitzt, aber das hat sie sich zugetraut, so eine Rasselbande durch die Menschenmenge auf dem Jahrmarkt zu lotsen.
Damals, in den Siebzigern, steigerte sich meine alte Angst vor Ärzten zu einer regelrechten Panik. Immer noch blutete ich, es hörte nicht auf. Wenn ich nicht sterben wollte, musste ich etwas unternehmen. Auf den Rat einer Freundin hin wandte ich mich schließlich an das Spital in Basel. Dort erzählte ich bewusst nichts von meinem blinden Kind, die genetische Frage sollte außen vor bleiben.
«Wir empfehlen Ihnen eine Gebärmutterresektion.»
«Bin ich schwanger?», war meine erste Reaktion, ich wollte nicht zu einer Abtreibung genötigt werden.
«Nein. Aber Sie sollten kein Kind mehr bekommen.»
Ein schrecklicher Gedanke, die Gebärmutter herausgerupft zu bekommen. In der Klinik drängten sie mich nicht. «Reden Sie in aller Ruhe mit Ihrem Mann.» Es war tröstlich, wie sie uns dann auf dem schweren Weg zur Entscheidung begleitet haben. Einzelgespräche, Paargespräche mit einem Psychologen und zusätzlich mit einem Geistlichen, um die moralischen Dinge auszuloten. Hart war diese Zeit, die größte Prüfung unserer Ehe seit der Entdeckung des Augenschadens von Lukas. Wie geht es weiter mit uns? Manchmal, sagten die Ärzte, liefen Eheleute danach auseinander. Sie sind besonnene, in jeder Hinsicht pingelig genaue Leute, diese Schweizer.
Wir begruben die Hoffnung auf ein weiteres Kind.
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Oktober
Herbst 2010. Noch einmal richtig genießen: späte Äpfel, Pflaumen, die in den Wipfeln trocknen und als Dörrobst herunterfallen. Traubenmost. Saust er schon im Fass? Er saust! Und hat ein bitzele Alkohol, für meinen bescheidenen Rausch langt es.
Walnüsse sind das Beste im Oktober. Wir haben keinen eigenen Baum, für Gärten sind sie im Grunde zu groß. Im Markgräflerland wachsen sie überall am Wegrand und an kleineren Straßen. Einzeln stehen sie da, höchstens zu zweit, mit ihrem ungewöhnlich dunklen, giftig grünen Laub und ausladender Krone. Frisch sind die Nüsse besonders lecker. Die Kinder von nebenan bringen sie mir, früher hab ich sie selbst aufgelesen. «Magdalena jagt», hat Konrad gewitzelt. Ja, es ist wie ein Jagdfieber, eine Pirsch auf allen vieren, anschließend hat man gelbbraune Pfoten.
Was dann kommt, ist Sitzarbeit. Erst den grünen schmierigen Panzer lösen, die feste braune Schale knacken, auspulen, als Letztes, eine beinahe meditative Tätigkeit: die ganz feine bittere Haut um den Kern abzwirbeln, dass kein Fitzele dranbleibt, bis die Nuss wirklich nackt ist. Schon den dritten Tag sitze ich so am Steintisch, derweil Konrad im Garten die groben Oktoberarbeiten erledigt.
Abräumen, alles winterfest machen, bis Allerheiligen sollte es geschehen sein, das ist Brauch. Staudenbeete, Gemüsebeete. Die Gelben Rüben und Roten Beeten müssen eingemietet werden, Kraut hobeln und einlegen. Noch einmal alles durchjäten, auch zwischen den Reben. Arbeit für den Mann, Arbeit für die Frau, und so viel, dass du den Garten am liebsten abschaffen würdest. Ob es neblig ist, ob Matsch, man muss sich sputen. «Ach, die Tomaten sind noch nicht …», immer ein schlechtes Gewissen, «jee, ’s Dahlienbeet!»
Für die Dahlien hat Konrad immer das Signal gegeben. «Heut noch nicht!» Entweder er fühlte sich nicht gut, oder er meinte, ich schaffe es nicht an dem Tag. Zwanzig Meter ist die Reihe lang, Dahlien abräumen ist die reinste Schlacht. «Heut Mittag!»
Die Schubkarre quietscht, Spaten drauf, peng – die klassische Ouvertüre, schleppende Stiefelschritte, ssschu, ssschu, ssschu, Richtung Südwest, Zwischenstopp am Komposthaufen. Er muss gucken, ob noch genügend Platz ist für die Unmengen von Blattwerk.
Konrad geht wirklich allein, ohne mich, das hat es in vierzig Jahren Sonnenmatt noch nie gegeben. «Konraaaad!» So rasch es geht, mache ich mich auf den Weg. Eine Schere brauche ich, im Gewächshaus müsste sie sein, für eine Schürze ist es zu spät. Der erste Akt ist traditionell meine Aufgabe, die letzten Dahlien werden geschnitten, um sie in der Nachbarschaft zu verschenken. Konrad wartet, bis ich bei ihm bin, er protestiert
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