Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
klang erleichtert. «Ich werde sie morgens mit dem Rad dorthin fahren.»
Noch am selben Tag flitzte sie mit mir auf dem Gepäckträger in die Erwinstraße zu Fräulein Pfeiffer, der Lehrerin. Wieder musste ich mich einer Prüfung unterziehen, diesmal schien es nicht gefährlich zu sein. Es erinnerte mich an die Engelsschule: «Wer weiß denn, wie man Kringlein macht?» Fragen der freundlichen Art, wie in dem Büchlein über die Himmelsküche, aus dem uns Mutter zu Weihnachten vorgelesen hatte. Fräulein Pfeiffer wollte wissen, ob ich schon etwas von Dornröschen und Schneewittchen gehört hätte.
«Märchen, die kenn ich alle schon laaaaaaaaaaaang!»
«Warst du denn schon mal auf dem Münsterturm?»
«Natürlich, das ist ein gotischer Turm!»
«Wo wohnt der Erzbischof?»
«Am Münsterplatz!»
«Warum?»
«Das muss er doch. Er muss doch sehen, ob alles in Ordnung ist.»
«Möchtest du in die Schule?»
«Ja. Spielen kann ich schon lange. Ich will lernen.»
Ab Ostern 1940 saß ich nun jeden Morgen auf Mutters Gepäckträger. Ungefähr zwei Kilometer waren es von unserer Erasmusstraße in das bürgerliche Viertel Wiehre, wo Fräulein Pfeiffer Schule hielt. Ich sehe mich, an Mutters Rücken gelehnt, noch halb im Schlaf – vor siebzig Jahren war das, fast auf den Tag genau.
So körperlich nahe beieinander waren Mutter und ich nur selten. Manchmal glaube ich, ich kann erst heute ihre Sorge richtig würdigen. Als Kind habe ich meine Mutter eher als ablehnend wahrgenommen. «Ich war das, was sie verbergen musste!», hab ich einmal im Zorn formuliert.
Glücklicherweise ist meine Mutter sehr alt geworden, wir haben es noch geschafft, Frieden miteinander zu schließen. Nach vielen Jahrzehnten, in denen ich die Kränkung nicht überwinden konnte, habe ich schließlich ihre Sicht verstehen können. Viele Mütter damals wären sicherlich über eine so unbändig extrovertierte Tochter erschrocken gewesen und hätten ihr die Zügel angelegt. Und in diesen besonderen Zeiten hatte sie kaum eine andere Wahl. Wenn sie mich schützen wollte, musste sie mich verbergen, mich, die ich überallhin stürmte und hemmungslos neugierig war, bremsen. «Nicht auffallen, Magdalena!» Dazu passten die Kleider in «gedeckten Farben». Ich habe sie gehasst, diese Kleider und Blusen in Beige und Braun, das ganze wüst Karierte, «darauf sieht man die Flecken nicht so», das sie mir anzog. War ich doch in Großvaters Farbenlehre gegangen und wusste genau, was schön war. Im Kleckern war ich natürlich groß, Spezialgebiet: Tomatensauce. Auf der Bluse, schlimmstenfalls bis an die Küchendecke.
Etwas Besseres als die Pfeifferschule hätte mir nicht passieren können. Fräulein Pfeiffer muss damals schon über fünfundsiebzig Jahre alt gewesen sein. Sie trug meist ein dunkelblaues Kleid, daran erinnere ich mich, Spitzen an den Handgelenken, und an ihre sehr feinen, weichen Hände. Wir waren vierzehn Kinder von sieben bis elf Jahren, in nur einem Zimmer, und wir saßen an größeren und kleineren Tischen, die eine schwarze, zerkratzte Oberfläche hatten, auch die Stühle ganz verschieden. Vorn stand eine Tafel auf einem Gestell, daneben eine Landkarte, die meistens ausgerollt war. Es gab einen Globus und einige Vogelkäfige mit fröhlichen Insassen und unendlich viele Bücher in deckenhohen Regalen. Und das Pult der Lehrerin natürlich, mit Stapeln von Lehrmaterial und einer Bleistiftschale, in die ich anfangs oft versehentlich hineinfasste, von meinem Tisch aus, der unmittelbar vor ihr stand, woraufhin ich von der feinen, weichen Hand sanft davon überzeugt wurde, dass dies nicht mein, sondern ihr Schreibtisch war.
Ich lernte. Es war schwer, nicht nur für mich. Die anderen Kinder waren gut im Sehen, manche allerdings ein wenig langsam und schwerfällig im Denken. Kleine Kärtchen mussten zu schönen Bildern gelegt werden, heute weiß ich, das war die modernste Lehrmethode, ihrer Zeit weit voraus. Innerhalb eines Jahres habe ich danach das Alphabet in vier verschiedenen Schriftsorten erlernt. Buchstaben für Buchstaben, immer ganz nahe mit der Nase auf dem Papier, mittags war diese durch die ständige Berührung mit der Druckfarbe schwarz. Dieser Unterricht war so wenig langweilig, dass ich eine ganz gute Schülerin wurde. Nur im Singen hatte ich «ausreichend», weil ich zu tief brummte, wenn das Fräulein auf der Geige spielte. Auch mit dem Zeichnen war sie nicht ganz zufrieden, denn ich konnte die Blumen oder Tiere nicht abmalen, wie es
Weitere Kostenlose Bücher