Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
oder in einer plötzlichen Aufwallung von Angst. In meiner Erinnerung nimmt er mich ganz leicht am Arm, nicht dauernd, sondern nur wenn es nötig ist. Mittags laufen wir gemeinsam bis zum Schwabentor – ein Weg, den ich immer noch ganz genau kenne. Tapp-tapp. Ich höre meine Schritte, die eines kräftigen, energischen Mädchens, immer aufmerksam, immer wachsam. Spürt der Fuß ein Hindernis auf, das Ohr eine Gefahr? Bordsteinkanten, ein Fahrrad von rechts – gehen, ausweichen, innehalten, ein ganz eigener Rhythmus, und Klaus passt sich mir an. Manchmal, wenn es ihm zu langweilig wird, denn eigentlich ist er ein Springinsfeld, zieht er mich hinter sich her, und ich vertraue ihm, zockle mit, er wird schon aufpassen. Ich gewöhne mich bald daran, ihm die Führung zu überlassen, so kommen wir schneller vorwärts, vor allem auf dem letzten Stück, wenn die stille Wiehre hinter uns liegt und wir eintauchen in die Welt der Straßenbahn. Von der Dreisambrücke kommt sie, ratternd und quietschend fährt sie durchs Schwabentor. Dort verabschieden wir uns auf dem Gehweg, von dort schaffe ich es gut allein nach Hause. Klaus entfernt sich, schnell und sportlich, im Springschritt, galopp-galopp-galopp-pp-pp, weg ist er.
Klaus und ich kannten uns so lange, bis seine Stimme anfing, kratzig und brüchig zu werden. Nachdem er die Pfeifferschule verlassen hatte, kamen wir noch einmal überraschend zusammen, er war schon Gymnasiast: Über seinen Vater ließ er mir ausrichten, er liege krank im Bett. Ich solle ihn bitte besuchen, ihm etwas erzählen. Sein Zuhause war eine vornehme Villa. In dieser Straße, der Goethestraße, lebten vor allem Ärzte, unter ihnen viele Juden. Klaus hatte eine Gehirnerschütterung. «Deswegen darf ich nicht lesen», sagte er mit einer fremden Stimme, die nicht mehr kindlich war. Lange, lange saß ich bei ihm. Wir sprachen von Tieren, von der Zimmerschulzeit.
Nach dem Krieg habe ich mehrmals versucht, Klaus wiederzufinden. Keine Spur, nicht mal das Haus seiner Familie war geblieben. Sein Nachname, ein Allerweltsname. Vielleicht könnte man ihn heutzutage per Internet finden. In dieser Geschichte – vom Abschied zweier Kinder – ist für mich immer ein Rest von Geheimnis geblieben. Was war damals zwischen uns, würde ich ihn fragen. Und warum hast du mir den Hund schenken wollen?
«Darf ich dir einen Hund schenken?» Er fragte es ganz vorsichtig, anders, als er sonst Dinge fragte. Normalerweise war er nüchtern und zupackend.
«Warum?»
«Wenn ich aufs Gymnasium gehe, hast du keinen, der dich begleitet.»
«Ein Hund?»
«Ja, einen großen Hund, der kann dich über die Straße führen.»
Mir war nicht ganz klar, was das sollte, doch ich freute mich. Es gefiel mir schon deshalb, weil sich jemand Gedanken über mein Leben machte. Und einen Hund als Gefährten, zum Liebhaben und Spielen, hätte ich gern gehabt. Klaus hatte offenbar schon seine Eltern gefragt, ob sie ihm das Geld dafür geben würden, ich fragte meine um Erlaubnis, und die sagten nein. Mutter sofort, und weil ich so sehr bettelte, schrieb sie Vater einen Brief in den Krieg, nach Paris, von dort kam ein ebenso kategorisches Nein: Wir haben kein Geld, so ein Vieh zu füttern.
Der Begriff «Blindenhund» fiel nicht. Oder fiel er doch? Hast du es gesagt, Klaus? Man benutzte das Wort «blind» in meinem Umkreis kaum. Und wenn doch, hab ich dann die Ohren zugemacht? Darüber habe ich oft nachgegrübelt. Dieser Augenblick eines angekündigten, überwältigend lieben Geschenks brachte mich in die gefährliche Nähe, etwas zu erkennen, was mir sehr wehtun würde.
Klaus, der liebe Bursche, wollte mir dann wenigstens einen Kanarienvogel schenken. Vor Vögeln hab ich Angst, wie vor allem, was sich schnell bewegt, was plötzlich auftaucht und verschwindet. Um ihn nicht zu verletzen, flüchtete ich mich in eine Ausrede:
«Ich hab zwei Geschwister, die ich hüten muss.» Gerade war meine Schwester Christel zur Welt gekommen. «Und Mutter sagt, wenn ich die fertiggehütet hab, dann ist keine Zeit mehr für einen Vogel.»
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Mein Freiburg
Freiburg ist vor allem Kindheit, Erinnerung an eine Stadt, die ganz mir gehörte. Wo im Frühjahr auf dem Schlossberg alles wie verrückt blühte und sich am Rande des steinernen Gürtels ein langes Band von Düften zog, Jasmin vor allem, und, weniger lieblich, eher dunkel, der von Kastanienkerzen. Allein die Gerüche Freiburgs zu beschreiben würde ein ganzes Buch füllen. Von der
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