Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
verlangt war.
Weihnachten spielten wir Theater. Ich durfte mitspielen, obwohl die anderen Kinder das nicht sehr schätzten. Ich würde «schielen», hieß es, und ein schielendes Sternchen wäre doch nicht schön. Fräulein Pfeiffer schalt nicht, sie sagte nur: «Unsere Magdalena kann sehr schön sprechen, und alle, die meinen, sie schielt, sollen erst mal das lange Gedicht so gut hersagen wie sie.»
Kleine Quälereien nur und nicht sehr viele, teils wegen meiner Augen, und mehr noch, weil ich als arm galt. Ich war in dieser kleinen Schule in ein Milieu vermögender und gebildeter Familien geraten, ich merkte es an den Kleidern und an der Sprache, niemand dort redete Dialekt. Teilweise sehr verwöhnte Kinder, deren Eltern eigene, große Häuser hatten, die von Erzieherinnen oder Kinderfräuleins, ja sogar mit Autos gebracht und abgeholt wurden. Darunter zwei Mädchen aus einer der besten Buchhändlerfamilien Freiburgs, Arztsöhne, ein Vater war ein berühmter Geiger, einer Sparkassendirektor, einer Universitätsprofessor. Einige Schüler waren hier, weil sie besondere Förderung brauchten, die Mehrheit mied das öffentliche Schulsystem aus anderen Gründen – eine seltsam verschwiegene Gesellschaft, mit der ich erst nach und nach in Kontakt kam.
«Magdalena ist ein armes Kind, das sieht nicht, und sie wohnt in einer Straße mit wenig Sonne.» Das war mein Ruf, und das fuchste mich. Nicht so sehr wegen der Augen, das bedrückte mich kaum, mehr die Abwertung meines Elternhauses.
«Dafür hat Magdalena die besten Ideen zum Spielen», verteidigte mich Fräulein Pfeiffer.
Dieses eine Zimmer, dazu eine Loggia für die Pause mit einem Zitronenbaum, mehr brauchte sie nicht, um uns zu unterrichten. Sie waren Teil einer großen herrschaftlichen Etage, die Fräulein Pfeiffer mit einer Freundin bewohnte, dem Fräulein Elise, einer ebenfalls sehr alten, beinahe tauben Dame, die als Teeköchin in Erscheinung trat. Man sah sie öfters mit ihrem Hörrohr herumlaufen, hin und wieder betrat sie das Klassenzimmer, wechselte sozusagen vom Privatleben in die Berufswelt ihrer Lehrerinfreundin. Oder sie hielt jemanden von uns, der wegen Bauchweh einen Tee brauchte, in der Küche fest.
«Du musst durchs Rohr sprechen, Kindchen.»
Ich trötete, so laut es ging, hinein.
«Du musst normal sprechen.» Sie hat es mir wunderbar erklärt, wie die Worte zuerst ganz klein sind und durch das Rohr in das kaputte Ohr gelangen und dort groß werden. Eine Lektion in Physik, ganz en passant wie vieles in dieser Schule.
«Rulaman» wurde vorgelesen, ein Roman über die ersten Menschen auf der Schwäbischen Alb. Für die Kleineren der «Schmiedledick», eine Geschichte vom wilden, unartigen Sohn eines Schmieds von der Mondwies im Hotzenwald. Ohne viel Aufhebens vom Lateinischen zu machen, sprach Fräulein Pfeiffer von «Grammatik». Wir sagten Verb, nicht Tuwort, sagten Substantiv, Adjektiv, man würde das ja sowieso bald, auf dem Gymnasium, brauchen.
Im Frühjahr bekam jeder ein Blatt vom Zitronenbaum geschenkt, damit wir dessen Duft ganz genau studierten. Ich roch so lange daran, bis es sich nahezu aufgelöst hatte. Fräulein Pfeiffer verteilte die verlockenden, exotischen Blätter gelegentlich auch als Fleißkärtchen. Vor lauter Freude darüber fühlte ich innendrin eine starke Wärme, und ich glaubte, ich würde im Gesicht knallrot. Dann legte sie leicht ihre Hand auf mein Haar, und ich wurde noch röter und legte den Kopf schief, um noch näher bei ihr zu sein. Dabei umwehte mich ein Geruch wie Buttermilch, ihre Haut roch so, säuerlich und für mich, weil ich ein Milchschorfkind bin, ein bissle grauslich. «So riecht man, wenn man alt ist», sagte sie einmal. Sie hatte wohl bemerkt, dass ich mein Gesicht verzog.
Mit der Tafel kam ich überhaupt nicht zurecht, sie war zu dunkel für mich und der Kontrast zum Weiß des Griffels viel zu schwach. Deswegen ließ mich Fräulein Pfeiffer gleich mit Papier und Tinte üben. Klaus, ein zwei Jahre älterer Mitschüler, linierte mir die Hefte mit einem roten Stift, so dick, dass meine Tintenbuchstaben oben und unten Halt finden konnten.
«Sie kann es! Magdalena kann es!» Klaus freute sich wie verrückt.
Schreiben ging, wenn auch mühsam. Schönschreiben dagegen, ein eigenes Fach, war eine Tortur, es strengte mich so an, dass ich nachts im Schlaf spazieren ging.
Klaus und ich wurden Freunde. Sein Handgelenk war knochig, weiß ich noch, einmal zumindest muss ich es gefasst haben, mitten im Sturz
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