Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Ganter-Brauerei roch es nach Malz, immer bei Ostwind hatten wir es in der Nase. Bei Westwind wehte aus der Färberei der stechende Geruch der Alaune bis in unser Wohnzimmer. Sobald es heiß wurde, fingen die Bächle an zu stinken, ihren Verlauf konnte ich dann riechen. Großvater hatte mir früh die Himmelsrichtungen beigebracht, ich wusste, die Sonne geht hinter dem Schlossberg auf, mittags ist sie am Schwabentor und am Nachmittag ungefähr bei der Uni. Ich nutzte das, lernte Nord und Süd, Ost und West die Gerüche zuzuordnen. In meinem Kopf bildete sich eine Topographie der Gerüche; und nicht nur eine, mehrere, je nach Umständen, Tageszeit, Jahreszeit verschieden. Im Mai etwa, zur Glyzinienzeit, wenn bestimmte Straßenzüge der Altstadt erfüllt waren von der fauligen, durchdringenden Süße, folgte ich auf dem Weg zur Schule ein Stück weit ihrem Duft.
Sobald ich mich im Bereich der Läden bewegte, hatte ich alle paar Schritte etwas anderes in der Nase. Streuselkuchen, dann Räucherwurst, nach Bäckerei und Metzgerei die seifigen Dunstwolken aus der Wäscherei, sehr intensiv, weil die Tür dort fast immer offen stand. An der Ecke musste das Wirtshaus kommen, eine der wichtigsten Duftmarken: Schweinsbraten mit Soße, und schon war ich am Münsterplatz. Ich spürte die Weite des Vorplatzes, selbst bei Windstille war hier die Luft deutlich frischer als in den Straßen, an manchen Tagen wehte mir aus dem Innern des Münsters schon der Weihrauch entgegen.
Zu keiner Zeit konnte ich ein Straßenschild lesen, trotzdem kam ich überallhin. An meinen Strecken, zwischen unserer Erasmusstraße und dem Münsterplatz, gab es hinreichend viele, für meine schlechten Augen wahrnehmbare Markierungen: ein rotes Haus, rote Postkästen, am Bertoldsbrunnen das Schild der Apotheke, es strahlte bei jedem Wetter blitzblau, küchenschürzenblau. Ein Blickfang war die Außentheke beim Graziani, dem Südfrüchteladen kurz vor der Schwabentorbrücke, auf blauem Tuch Berge von Orange.
«Magdalena, geh schnell zum Markt, ich hab die Petersilie vergessen.» Keinen von Mutters Aufträgen erfüllte ich lieber als diesen, und nie war ich vor halb eins zurück.
«Was hast du so lange gemacht?», fragte sie dann.
«Der Markt ist so schön, Mama.» In solchen Momenten nannte ich sie Mama, nicht Mutter. Auch sie mochte es, und sie akzeptierte die Anrede als eine Art Entschuldigung. «Maaama!» Eigentlich war das unerwünscht, Großvater wollte das nicht, aber mittags war er bei Tante Regina zum Essen, und so erlaubten wir uns diese kleine Zärtlichkeit.
Glücklicherweise fragte Mutter nie nach, was ich vor und nach dem Petersiliekaufen tat. Was sollte ich ihr auch erzählen? Sie hätte es doch nicht verstanden, und ich wiederum hatte mit meinen acht Jahren das sichere Gefühl, dass es Dinge gibt, die Erwachsene nicht wissen müssen. Von den Erlebnissen, diesen heimlichen Vormittagen, zehre ich heute noch.
Nirgends gab es einen bunteren, gastlicheren Ort als den Wochenmarkt auf dem Münsterplatz – so farbig, so geräuschvoll. «Mädle, halt auf!» Von oben schüttete mir jemand Kirschen oder Pflaumen in die Hände. Da Mutter nicht dabei war, spuckte ich die Kerne einfach auf den Boden. Pfffffffffft! Selbst bei größerem Gedränge schlüpfte ich überall durch, zwischen all den Leibern, den Körben, manchmal sanft gelenkt von einer Hand, die mir auf die Schulter fasste und mich ein wenig nach links oder rechts schob, sodass ich eine Lücke in der träge sich bewegenden Menge fand.
Irgendwann schlich ich mich fort aus dem Trubel, ins Münster.
Eigentlich hätte ich es nicht ohne Begleitung Erwachsener betreten dürfen, ich war nämlich noch kein Kommunionkind. Erst mit neun, wenn der Vorbereitungsunterricht begann, durfte man das. Das Verbotene lockte. Sollte man mich ruhig ertappen, zur Not kannte ich den Sakristan, er würde sich bestimmt an mich erinnern. Großvater und ich hatten ihn ein paar Mal besucht, wir waren zusammen auf den Münsterturm gestiegen.
Ich hatte ein Spiel erfunden, das ging so: Rein ins Münster, ins Dunkle, wieder raus auf den Markt, ins Helle. Wieder ins Dunkle, und wieder ins Helle. Helldunkelhelldunkelhelldunkel – das war eine Seligkeit für die Augen, besonders bei Hitze oder starkem Frost, wenn zwischen draußen und drinnen auch noch ein Temperaturunterschied war. Kühlwarm, kühlwarm, das war ein Gefühl auf der Haut, sie prickelte, und ich glaubte zu spüren, wie das Blut in den Adern fließt, am
Weitere Kostenlose Bücher