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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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du?»
    «Magdalena, sei still», flüstert meine Mutter. «Großvater weint.»
    Wenige Monate darauf starb mein Großvater mütterlicherseits, und ich begegnete noch einmal dem Tod. Ich hatte Großvater in dem großen modernen Haus am Alten Messplatz besucht. Noch nie hatte ich ihn in dem hohen Doppelbett gesehen. Die Abendsonne schien herein und erleuchtete das Gelb der Decke, und davon hob sich ganz deutlich seine Hand ab. Meine Güte, hab ich gedacht, Großvater ist doch Schlosser, warum ist die Hand so weiß?
    «Opa ist herzkrank.»
    Weiße Hände und herzkrank, das eine hat sich mit dem anderen für immer in meinem Kopf verbunden. Unsere Familiengeschichte ist bevölkert von Herzkranken, das Herz ist der schwächste Punkt bei uns.
    Den Schlossergroßvater mochte ich, weil er so schön von seinem Handwerk erzählen konnte, vom Bohren und von den Maschinen. Zwei, drei Mal hat er mich in seine Werkstatt mitgenommen, nach Dienstschluss, sonst wären die Sägen und all das zu gefährlich für mich gewesen. Und außerdem gehörte sein Reich ihm nicht allein, es war Teil einer großen Firma für Büromöbel. Es hat dort nach Holz gerochen, nach Lacken vor allem. «Der schafft in der Fabrik», sagte mein Malergroßvater verächtlich über den Schlossergroßvater – ein Lohnsklave in seinen Augen, der nichts zu bestimmen und nichts zu vererben hatte.
    Von der Frau meines Schlossergroßvaters, also Mutters Mutter, wurde gemunkelt, sie habe sich eines jungen Mannes wegen das Leben genommen, vor langer Zeit schon. Vor Großvaters zweiter Frau, unserer strengen Stiefoma Wilhelmine, habe ich mich gefürchtet. Sie war hart, sehr genau, verlangte unbedingte Unterordnung. Eine noch ziemlich junge resolute Dame, die den gemütlichen, immer werkelnden Großvater sehr verwöhnte und so verteufelt gut bekochte, dass er binnen kürzester Zeit aus den Nähten platzte. Herzverfettung habe die Todesursache gelautet. «Mord auf Raten», sozusagen, wieder so ein Gerücht, das Familienurteil lautete «schuldig». Mit dem Tod des Schlosseropas verlor ich eines der leuchtenden, schönsten Bilder meiner Kindheit. In dessen Wohnzimmer nämlich war unterm Fenster ein kleines Podest, von dort konnte man runter auf den Freiburger Jahrmarkt gucken, auf die vielen bunten Schirme der Stände, abends auf die Lichter der Karussells, die heulende Achterbahn und die große Fläche, die immer grün wurde, «die Raupe».
    Jahrmarkt! Ich war ein Jahrmarktskind! Nicht Achterbahn, nicht Raupe, ich liebte das alte Kettenkarussell. Rote Brettle, wo man drauf sitzt, an vier Ketten, vorne ein Stab, der sorgfältig zugemacht wird wie bei unserer kleinen Schaukel im Hof. Und dann fängt es langsam an, immer weiter nach außen zu trudeln, das ist für mich der größte Genuss. Ich fliege! Die Erde liegt unter mir. Ich hab die Augen aufgerissen, niemals hab ich die Augen zugemacht. Ich fliege! Über die Wiese, über den Bach, jetzt, jetzt bin ich über dem Schlossberg, jetzt über dem Münster.
    In unserem Familienhaus in der Erasmusstraße ging das Leben weiter.
    «Sei nicht traurig, Großvater. Du hast doch mich!»
    «Ja, Strubele. Ich weiß.»
    Nach Großmutter Berthas Tod ging Großvater immer in den dritten Stock zu seiner Tochter Regina zum Essen. «Männer müssen versorgt werden!» Mir war nicht ganz klar, warum Männer nicht selber kochen können. Da oben bei Tante Regina und Onkel Anton, dem dummen Leo und der affigen Ricki würde er es gut haben. Es ging feiner zu als in jeder anderen Etage, denn der Onkel war Prokurist bei einer Textilfirma, «ein halber Direktor». Auch das verstand ich nicht, wer reich ist und wer nicht, in dieser Hinsicht war ich das unaufgeklärteste Kind unter der Sonne. Mich interessierten andere Dinge an Onkel Anton. Er war ein «Kriegsverzehrter», vom Ersten Weltkrieg her. Der Krieg hatte etwas von ihm verzehrt. Wie und was? War mir ein Rätsel.
    Eines Morgens kamen die Eltern ins Kinderzimmer, sie kamen beide, das passierte sonst nie. Vater sprach leise zu Mutter, er hatte eine ganz andere Stimme als die, die ich kannte, und roch nach Sonntag, nach glattem Gesicht.
    «Magdalena, Vater will dir auf Wiedersehen sagen. Er muss fort. Es ist Krieg gekommen.» Auch Mutter klang bedrückt.
    Mir fielen sogleich Onkel Anton ein und die Kanonenkugeln am Schlossberg. «Pass auf», riet ich Vater, «vor allem, wenn die ganz großen Bollen kommen.» Er schien gar nicht zuzuhören. Er legte mir Schokolade in die Hand und noch etwas auf den

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