Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Teller mit den verführerisch duftenden Erdbeeren und Kirschen, den feinen Rettichscheiben, die Mutter ihnen hingestellt hatte. Mein Bauch rebellierte nicht, und komischerweise schien ich auch gefeit gegen die Masern. Gegen Ende des Sommers nahm ich die Herumstreunerei wieder auf.
Tief drinnen bewahrte ich die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. Momentan war damit nichts anzufangen, später vielleicht. Viele Male im Leben habe ich an solchen gefährlichen Wendepunkten gestanden, die Grundfrage war eigentlich immer dieselbe: Bleibe ich das bös gekränkte Kind, oder finde ich einen Weg für meine Sehnsucht?
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Jungmädel mit Sonderaufgaben
Freiburg war 1943 in immer größerer Unordnung, und ich wurde ganz und gar in Anspruch genommen von der neuen Schule. Fräulein Pfeiffers langanhaltende Krankheit bedeutete das Ende der Zimmerschule, und die Frage war jetzt, wohin. «Die Magdalena braucht guten Unterricht, aber keine Blindenschule, um Himmels willen nicht.» Wieder dieses schlimme Wort. Mutter hatte sich mit den Schwestern von St. Lioba deswegen beraten, welche die Angell-Schule empfahlen. Ebenfalls eine Privatschule, aber eine viel größere, sie wurde von einem Ehepaar geleitet, Herbert und Charlotte Angell.
Der «Häuptling», Herr Angell, hatte eine Breecheshose an und um den Hals einen aufgelegten weichen Schillerkragen. Er und seine Frau, wurde mir später erzählt, waren Mitglieder der Jugendbewegung gewesen, aus Königsberg beide, und hatten in diesem Geiste und als Fremde in der Stadt diese Schule gegründet, waren dann zum Nazitum gestoßen, aus Überzeugung, sagen einige, vielleicht auch nur zum Schein, um einen Schutzraum für die Schüler zu schaffen. Für mich war es einer, ich fühlte mich wohl, trotz der Strenge, die hier herrschte. Wenn man etwas «ausjefressen» – Herbert Angell sprach ostpreußischen Dialekt – hatte, wurde man nicht vom Lehrer bestraft, sondern musste ins Zimmer 8, also ins Chefzimmer, und bekennen. Um die große Pause herum stand eine lange Galerie von Jungen dort, seltener Mädchen. Die Tür ging auf. Mal fing der Rex vorne in der Schlange an, mal hinten, man konnte sich schwer ausrechnen, ob man noch drankam oder entwischen konnte, weil vielleicht das Telefon klingelte. Auf die Art lernten wir, zu unseren Taten zu stehen.
Ansonsten war Leistung gefordert. Durch den Krieg bedingt, weil so viele Lehrer an der Front waren, ergaben sich aber ungewöhnliche Freiheiten. Wir hatten eine berühmte Bildhauerin als Zeichenlehrerin, Eva Eisenlohr, eine Anthroposophin. Sie war der erste Mensch, den ich kannte, der werktags in langen Kleidern herumlief, vorzugsweise in Rostbraun oder Lila. Diese Dame hat uns einfach eine Geschichte erzählt, die durften wir malen. Zuerst die Sage von Herakles, Sturz der Zentauren, der Augiasstall und so weiter, das war schwierig für mich. Aber die Äpfel der Hesperiden, damit konnte ich etwas anfangen, da hab ich lauter lila gekleidete Frauen mit orangefarbenen Äpfeln gemalt. Sie waren wirklichen Frauen und wirklichen Äpfeln nicht ähnlich, doch die Stimmung, das Orange zum Lila, war mir gelungen, die hat Frau Eisenlohr unheimlich gefallen. Plötzlich bekam ich im Zeichnen eine Eins.
1943 wurde ich, etwas verspätet, Jungmädel. Mein Vater hatte aus Russland geschrieben, er erlaube es mir keinesfalls. Ich musste seinen Brief dem Rex zeigen, der wiederum Mutter einbestellte und ihr erklärte, es wäre nicht günstig, wenn ich mich wegen der Augen entschuldigen ließe. Sonst würden die Behörden, das Oberschulamt und das Gesundheitsamt, bei ihm anfragen, warum ist das Kind nicht in der Blindenschule, und eben das ginge nun gar nicht. Ich selbst wollte unbedingt Jungmädel sein, wollte nicht schon wieder ausgeschlossen sein, zumal meine ganze Clique aus der Pfarrgruppe vom Münster schon dabei war.
Dank dem Rex sah ich bald aus wie alle anderen: dunkelblauer Rock, weiße Bluse, wie ein Bubenhemd geschnitten, die am Rock angeknöpft wurde, braune Wildlederjacke, Ersatz natürlich, nach Möglichkeit braune Schuhe und, wenn es ging, blütenweiße Söckchen an den möglichst sportlich gebräunten Beinen. Ich mochte die Uniform, ich mochte, ehrlich gesagt, das Jungmädel-Leben überhaupt, aus dem einfachen Grund, weil nämlich hier nie ein Unterschied gemacht wurde. Was ich nicht konnte, musste ich eben durch andere Leistungen ersetzen. Wenn Geländespiele gemacht wurden, war ich Feuerwache, oder ich hatte die Schnitzel
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