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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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nicht sofort abhauen würde. Es erscheint mir heute unglaublich: Ich als kleines Ding zwinge eine beinahe vierzigjährige Frau auf den Perserteppich. Bislang hatte ich mit den Buben in der Pause hier und da spielerisch gerauft. Jetzt war es Ernst, und ich konnte es! Hurra! Dass Tante Melli meiner Mutter nichts von dem Vorfall erzählte, bewies, ich hatte mich nicht geirrt.
    Am 16. Januar 1943 war ich zehn Jahre alt geworden und dabei, ein wehrhafter Mensch zu werden. Am meisten lernte ich außerhalb des Elternhauses, hauptsächlich durch die ausgiebige Begegnung mit meinen diversen Tanten – ein wahres Panoptikum von Typen und Charakteren. Die Ferien verbrachte ich bei meiner Patin, Tante Gertrud, siebzig Kilometer nördlich von Freiburg, im Lehrerhaus der Dorfschule von Zusenhofen, die mein Onkel Robert leitete.
    Landleben, wieder etwas Neues. Baden im angestauten Bach mit den Cousinen, von denen die älteste schon für Burschen schwärmte. Und viel, viel Arbeit, im Sommer vor allem Ährenlesen. Das hieß stundenlang barfuß über die Stoppeläcker laufen, ich stolperte oft, abends hatte ich Blasen und Abschürfungen an den Fußsohlen. Meine Cousinen und mein Vetter Gerd, der damals im Stimmbruch war, hatten Hornhaut und neckten mich immer mit meinen «Stadtfüßchen». Sie lachten mich ständig aus, weil ich nichts konnte, nicht einmal schwimmen. Im Dorf erfuhr ich, wie man Käse macht, und ich übte mich im Aushalten von Beschwerlichkeiten, nicht zuletzt deshalb, weil ich Gerd sehr mochte und ihn als Beschützer und Freund haben wollte. Ich hätte alles getan, was er gesagt hätte, doch er sagte nie viel.
    An heißen Tagen badeten die Dorfkinder und auch ich, in meinem türkisblauen Badeanzug, im kleinen Teich. Danach wurde Verstecken zwischen den Bäumen und Büschen gespielt, dabei konnte ich nicht mitmachen. Meist blieb ich mit meiner jüngeren Cousine am Ufer sitzen. Sie brachte mir das Flechten und Kränzebinden bei, das gefiel mir derart gut, dass ich nach kurzer Zeit sehr lange, dichte, wilde, kunterbunte Girlanden aus allem machte, was sich so fand: Mohn, Margeriten, Seifenkraut, Kletten und vielerlei Arten von Gräsern und Hälmchen. Daraus entwickelten sich Spiele, mal war ich die Mohnprinzessin, oder ich verwandelte mich in einen Grashüpfer.
    Einmal verkleidete ich mich als indische Tempeltänzerin Shakuntala, die ihrem Oberpriester etwas vortanzen wollte und sich dazu schön schmückte. Irgendein Buch, wahrscheinlich ein Groschenroman von Tante Melli, hatte mich dazu inspiriert. Ich bekränzte meinen ganzen Körper mit Blumen, und dazu passte, fand ich, kein blauer Badeanzug. Also ließ ich ihn weg und trat zu meinem Vetter Gerd in die kleine Stube, sang und tanzte, bis Tante Gertrud eintrat und mich energisch hinausschickte. Drinnen ging ein mächtiges Donnerwetter nieder, ich hörte, während ich mich entfernte, was von «Schularbeiten machen» und «Nie mehr verplemperst du mit dem verrückten Ding deine Nachmittage!». Dann knallte die Tür, und die Patin stand hinter mir:
    «Das ist eine Sünde, Magdalena.»
    «Warum denn, Tante Gertrud?» In meinem Beichtunterricht waren solche Sünden nicht vorgekommen.
    Ohne weitere Erklärung wies sie mich an, das «Grünfutter» in einen Eimer zu tun, damit sie es auf den Komposthaufen im Garten werfen könne. «Weißt du nicht, dass Pflanzen auf der Haut Ausschläge verursachen können?» Das jagte mir Angst ein, denn ich hatte, seit meiner Milchschorfgeschichte, immer wieder mit Hautproblemen zu kämpfen. Seither habe ich mir keine Kränze mehr um den Leib gewunden, geblieben ist allerdings, dass ich mir gern Blumen ins Haar stecke.
    Trotz alledem, meine Kindheit war lebendig! Es gab wunderwunderschöne Augenblicke, sogar in Zusenhofen – ich sitze allein auf einer Frühlingswiese, außer Rufweite von Tante Gertrud, und höre den Kühen zu, wie sie die Klauen voransetzen und langsam, genüsslich das Gras um die Zunge wickeln, es fein zermahlen und wieder hochrülpsen. Ein leicht säuerlicher Geruch breitet sich aus, durchtränkt für eine Weile die eben erst von der Sonne erwärmte Luft, unter der noch eine kleine Kühle lauert. Manchmal ein «Platsch!».

[zur Inhaltsübersicht]
    Ich sterbe nicht
    Manchmal ist das eigene Leben wie ein fremdes Haus. Und manchmal muss man Tonnen von Schutt wegräumen, bis in einem Zimmer etwas sichtbar wird, und noch hundert Mal davor zurückscheuen.
    Mit zehn Jahren bin ich dem Tod nahe. 1943, kurz nach Pfingsten. Juni.

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