Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Erdbeerzeit. Im Alltag geht es drunter und drüber, und die Unbequemlichkeiten hören nicht auf, sie nehmen zu, «Ersatz» ist jetzt ein häufiges Wort, Ersatzkaffee, Ersatzhonig. Die Krankheit, die mich fast umbrachte, ist umgeben von vielen neuen äußeren Umständen, über die ich stundenlang erzählen könnte. Von «Ersatzseife» zum Beispiel, die viel lustiger ist als die bisher gebrauchte, sie schwimmt. Man kann gut Löcher reinbohren und in der Badewanne Schiffchen damit spielen. Es ist die Zeit der kratzigen Strümpfe, die schnell kaputtgehen, Mutter stopft unentwegt an dem Zeug herum, auch an Pullovern, Schürzen, Blusen. Mir werden dauernd die Röcke zu kurz, und sie müssen «angesetzt» werden, immer ein neues Stück unten dran, rot kariert, grün-gelb gestreift, was gerade vorhanden ist oder besorgt werden kann. In diesem Frühsommer sehe ich aus wie ein «Driller», ein ringelweise bunt angestrichener, spitzer Holzkreisel, den man mit einer Peitsche zum Tanzen bringt.
Auf einem Sonntagsausflug im Juni habe ich irgendwie die Orientierung verloren. Wir sind eine große Gruppe, die morgens zu einer längeren Fußwanderung aufbricht, Mutter und ich, Peter und Christel, zwei Cousinen, Tante Melli. Unser Ziel ist ein Erdbeerdorf im Freiburger Norden. Nachdem wir Unmengen von Erdbeeren verschlungen haben, essen wir in einer Wirtschaft Erbsen und Gelbe Rüben, Fleisch auf Marken. Alles ist gut, besonders gut, ein wenig wie vor dem Krieg. Dann gehe ich mit meiner Cousine aufs Klo. Ein Plumpsklo, es stinkt dermaßen, dass ich mich grause. Unverrichteter Dinge bin ich wieder zum Essen zurück. Zum Nachtisch wieder Erdbeeren, noch vor dem Rückmarsch fängt es an mit den Bauchschmerzen.
«Jetzt geh doch endlich aufs Klo, Magdalena!»
«Ich kann nicht.»
«Du machst dir noch in die Hos!»
«Nein.»
Es ist so schlimm, dass ich kaum laufen kann. Meine Cousine erleichtert sich unterwegs, sie setzt sich auf ein Loch, das im Boden ausgehoben ist, eine Kartoffelmiete oder so was. Ich nicht, ich kann es einfach nicht. Es könnte ja jemand sehen, dass da zwei kleine Mädchen einen Haufen hinsetzen. Wirtshausgäste, die zur selben Zeit wie wir aufgebrochen sind, oder die polnischen Arbeiter auf den Erdbeerfeldern. Gerade noch haben wir im Vorübergehen die fremden Laute gehört, einige Männer und Frauen haben gesungen. Sie könnten meinen nackten Popo sehen und die Spalte zwischen den Beinen, die selbst Aphrodite in den Zigarettenbilderalben mit der Hand oder einem Blatt bedeckt hält.
Mittlerweile habe ich eine gewisse Ahnung davon, wie weit eine Landschaft ist, dass es andere Menschen gibt, deren Auge bis ans Ende des Weges reicht. Sogar der Mond könnte von oben zuschauen. In einer stockfinsteren Nacht, während der Verdunkelung, habe ich ihn sogar einmal gesehen: ein großer runder gelber Käse. Manchmal ist er auch tagsüber am Himmel, so viel weiß ich aus der Schule, ganz blass, weiß beinahe und durchsichtig, auch für Leute mit den «besten Adleraugen» kaum wahrnehmbar, hat Fräulein Pfeiffer gesagt. Trotzdem sei er da. Seit mir diese Dinge klarer geworden sind, bin ich draußen nicht mehr so ungeniert. Pipi im Freien kommt für mich auf gar keinen Fall mehr in Frage. Wenn nicht andere Spaziergänger, der Mond wird mich auf jeden Fall sehen. Oder der Mann im Mond? Schrecklich, denke ich und kneife die Beine und Pobacken zusammen.
«Lauf zu. Der Weg ist noch weit.»
In meinem Leib grummelt es fürchterlich. Zu Hause liege ich auf meinem Bett, ich fiebere. «Wenn es morgen nicht besser ist, hol ich den Doktor.» Tatsächlich kommt er, Magenverstimmung, eventuell eine Darmverschlingung, mutmaßt er, nachdem er meinen prallen, glühend heißen Bauch abgetastet hat. Ich wimmere vor mich hin, versuche, tapfer zu sein. Es dauert noch einen Tag und eine Nacht, bis der Krankenwagen mich ins Josefs-Krankenhaus bringt. Und dort, Gott sei Dank, empfängt mich ein Bekannter, Professor Wolf, der meinen Vater kurz vor dem Krieg am Blinddarm operiert hat. Über die nächsten Stunden weiß ich nichts, «ein geplatzter Blinddarm», wird mir später mitgeteilt, als ich wieder richtig wach bin. Am Bett sitzt Mutter, mit einem rosa Pfingstblumenstrauß, das ist bis dahin niemals vorgekommen, Blumen für mich. Der Professor kommt herein und redet leise auf sie ein, und sie atmet schwer.
«Sie sind spät mit dem Kind gekommen.»
«Ja, wenn der Mann nicht daheim ist. Wir Frauen wissen doch nichts.»
«Ich weiß nicht, ob es
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