Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
für die Schnitzeljagd auszulegen, etwas, was im Gehtempo geschehen durfte, die Jagd selbst wäre zu schnell für mich gewesen. Zackig singen «Die Fahne hoch» und einwandfrei im Tritt marschieren waren kein Problem für mich. Grölen, ohne zu denken, herrlich!
«Wildgänse rauschen durch die Nacht,
mit schrillem Schrei nach Norden.
Unstete Fahrt, habt acht, habt acht,
die Welt ist voller Morden.»
Immer häufiger ertönten die Alarmsirenen. Überall in unserem Haus standen auf den Treppenabsätzen große Wasserbottiche und Sandeimer sowie Feuerpatschen, also mit Säcken umwickelte Strohbesen, die man nass machen und mit denen man auf die durch Brandbomben entstehenden Flammen draufhauen konnte. Im Flur hatte jedes Familienmitglied seinen Rucksack, aufgereiht in einer festgelegten Folge, vornean der von Peter, dahinter meiner, Christels Sachen waren in Mutters Gepäck. Wenn die Sirene nur Voralarm blies, dann brauchte man nicht ins Bett, man wartete ab. Bei Hauptalarm schnappten wir Wintermäntel und Rucksack, Schulkinder wie ich auch die Schultasche, und ab in den Luftschutzkeller. Das war so perfekt eingespielt, als wären wir Soldaten.
Meist saßen wir mehrere Stunden im Keller. Die Erwachsenen spielten Karten, wir Kinder schliefen meistens, wenigstens in der Nacht. Kam der Alarm abends sehr spät, fing die Schule anderntags erst mit der zweiten oder dritten Stunde an. Im Glücksfall fiel Mathe aus, fehlende Hausaufgaben wurden nur lässig gerügt.
«Magdalena, nicht abspringen!», rief Mutter mir hin und wieder nach, meistens jedoch vergaß sie es. Ich sprang, wann ich wollte oder es unvermeidlich war, ich war viel geschickter geworden darin. Warum sollte ich etwas nicht dürfen, wenn das, was ich tun musste, genauso gefährlich war, zum Beispiel täglich meine Schwester ausfahren? «Du hast eine große Verantwortung, Magdalena.» Wer sonst, bitte schön, hätte Christel kutschieren sollen? Nachmittags zog ich missmutig mit dem dunkelblauen, rosa ausgeschlagenen Kinderwagen los, dahin, wo «gute Luft» war, auf den Schlossberg. Auf den Schlängelwegen mit den vielen Stufen polterte der Wagen heftig, man musste ihn gut festhalten, damit er nicht kippte. Er kippte wirklich nie, doch spätestens in der dritten, vierten Kurve kam der Gelbe-Rüben-Brei, den ich vorher gefüttert hatte, wieder zum Vorschein. Säuerlich riechende Kotze – sie verdarb das schöne Kissen, wenigstens das hatte ich erreicht. «Christel ist wieder mies geworden», verkündete ich stolz bei meiner Rückkehr.
Im Winter 1943/44 fuhr ich viel alleine Schlitten, «Bob», wie wir sagten, den Serpentinenweg am Schlossberg runter, zwischen dem Dunkel der Sträucher hindurch, dem sich windenden Hellen nach, mit Indianergeheul über jedes Höckele. Die Füße nur zum Korrigieren des Kurses einsetzend, selten, um die Geschwindigkeit zu verringern, nur, wenn jemand am Vortag die Unebenheiten im Gelände zusätzlich vereist hatte. Das ging so: Man häufte dick Schnee auf, und dann pinkelten die Buben ausgiebig drauf. Am Wochenende rasten die größeren Kinder in langer Kolonne die Strecke hinunter, ich war mit von der Partie. «Magdalena muss hinten sein.» Die anderen hatten Angst, ich könnte, wenn ich vorne oder mittendrin führe, im Falle einer Karambolage nicht schnell genug handeln. Deswegen war ich der letzte von sechs oder sieben Schlitten, ich lag bäuchlings, die Hand am vorletzten eingehängt. Und wir rauschten kreischend ineinander.
In der Angell-Schule hatten wir jetzt Rassenkunde. Es ging um die Merkmale der Guten, Auserwählten, und ich fragte entgeistert: «Und was bin ich?» Prompt holte mich der Lehrer nach vorne. Ich, Magdalena, sei durch und durch «ungermanisch», sagte er zur Klasse, dunkle Haare und Augen, hohe Backenknochen, braune Haut. Ich heulte laut auf und stampfte mit den Füßen und wollte fortgehen, nie mehr, nie mehr in diese Schule. Nach der großen Pause wurde ich ins Zimmer 8 gerufen, zusammen mit der blond gelockten Anita. Ich dachte, es käme nun eine Rüge oder Ohrfeige für mein zorniges Betragen. Stattdessen bat mich der Rex, mich hinzusetzen und doch mit dem Weinen aufzuhören. Ich sei doch ein tapferes Mädchen, sagte er freundlich, auch wenn ich nicht wie eine Germanin aussähe. «Das geht vielen Deutschen so, das kommt von den Vorfahren.» Und er fügte tröstend hinzu: «Deine Mutter ist doch blond und blauäugig, und wenn du einen blonden oder rothaarigen Burschen heiratest, wirst du bestimmt
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