Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Schritten zu messen. Am Tag ging ich spionieren, als harmloses, spielendes Kind umkreiste ich den Stamm, den Vater als brauchbar ausgewählt hatte, und zählte dann im Weghüpfen die Schritte von dort bis zu uns, mit allen Richtungswechseln, damit man nachts, zur Sperrstunde, das Objekt der Begierde genau orten konnte.
Mittlerweile war auch Großvater aus der Evakuierung im Schwarzwald zurück. «Geh nicht so viel zu Opa, Magdalena!» Er könne nicht mehr richtig sprechen, hieß es, also möge ich ihn bitte nicht dazu veranlassen. Seine Stimme war wirklich nur noch ein heiseres Krächzen. Trotzdem besuchte ich ihn manchmal und erzählte ihm, was sich da draußen in Freiburgs Trümmerlandschaft abspielte. Vom Backsteineputzen, wie man den von Feuer und Nässe porös gewordenen Mörtel mit einem Eisenschaber entfernt. «Hinter unserem Haus sind wir schon fertig, Großvater.» Und jetzt, prahlte ich, zögen wir, auch ich, mit Handkarren zu fremder Leute Trümmergebirge. Meist saß er stumm im Mantel da, seine runzlig gewordenen Hände klammerten sich um den Spazierstock. Er muss in seiner eiskalten großen Wohnung viel gefroren haben.
Im Spätherbst fing für mich so etwas Ähnliches wie Schule an, ein Französisch-Kurs am St. Ursula-Gymnasium für Mädchen, wo ich nun hinsollte, in der Wiehre. Das Erste, was ich dort zu lernen hatte, war «Oh Tannenbaum»:
«Mon beau sapin,
roi des forets,
que j’aime ta parure.»
Bei Tannenbaum dachte ich ans Verheizen, an einen kräftigen Baum, in handliche Stücke gesägt, kaum mehr an den Christbaum, obwohl er sich aus der Phantasie des bald dreizehnjährigen Mädchens nicht ganz vertreiben ließ. Weihnachten 1945 wurde für mich wider Erwarten eines der schönsten. Unsere Mutter brachte es fertig, aus Gelbe-Rüben-Schalen, Kaffeesatz, etwas Mehl, einer Spur von Fett und geheimnisvollen Aromen unbekannter Herkunft Lebküchle zu backen. Ein Christbaum war da, «hereingeschneit», um es vornehm zu sagen, ohne Kerzen zwar, ohne Kugeln, die waren zersprungen in der Bombennacht, geschmückt mit Strohsternen. Peter und ich hatten sie aus Hälmchen gebastelt, die wir beim Hamstern von den Bauern erbeten hatten. Vater und Nicki, ein ganz junger, vielleicht fünfzehnjähriger Russenbursche, der bei uns lebte, weil er nicht heimwollte, und beim Wiederaufbau der Malerwerkstatt half, gruben auf dem Speicher die Krippe unter dem Schutt aus und werkelten so lange daran herum, bis sie beinahe wieder neu war. Der Mensch ist ein Schöpfer! Wir waren überwältigt von Lebenslust an diesem Heiligen Abend nach dem Krieg. «Stille Nacht, Heilige Nacht», die alten Lieder kamen zurück, und Nicki war bei uns, er sang mit. Endlich hatte ich einen älteren Bruder. Nein, ich war verliebt. Verliebt in ihn und in die Tatsache, dass ein blonder Junge mich mochte.
Nickis Verschwinden hat mir fürchterlich wehgetan. Alle Lieben verschwinden auf die eine oder andere Weise, und womöglich könnte ich sogar daran schuld sein. Lange habe ich geglaubt, das ist mein Schicksal, eigentlich, bis ich Konrad traf. Klaus, Fritz, 1946 im Frühjahr Nicki, und es ging so fort. «Betet für Nicki», sagte Mutter. Man hätte ihn zwangsweise heimgeschickt, nach Russland.
Die Trümmerfelder der Stadt waren in diesem Frühling über und über mit gelbem Huflattich überzogen. Unsere Amerikanerrebe, die einst unsere Werkstatt umrankt hatte, war unter dem vier Meter hohen Schutt hervorgekrochen und grünte. Aber ich konnte mich nicht daran freuen. Ich war krank vor Hunger. Nachts wachte ich vom Knurren meines Magens oder von den unverschämten Blähungen auf. Von dem wenigen Brot, den wässrigen Kohl- und Rübensuppen, den halb erfrorenen Kartoffeln, die wir verschlangen, hatte man ständig Bauchschmerzen, es wuchsen immer neue eitrige Stellen auf der Haut. Unser Vater kriegte das Beste vom Essen, mehr Brot.
Ich erinnere mich an eine Szene in der Küche, vom Bett aus sehe ich jenseits der eingesunkenen Mauer Vaters Rücken, und weiter hinten, sehr undeutlich, an den Küchenschrank gelehnt, sein Kumpel, mit dem er in Russland war. Er erörtert gerade meinem Vater die Möglichkeiten eines Tauschgeschäfts, Draht gegen ein Bündel «Bahndamm», also selbst angebauten Tabak, «Bahndamm» oder auch «Siedlerstolz», wovon man wieder einen Teil gegen Butter eintauschen könnte. Durchdringend, fast ordinär ist die Stimme. Der nächste Satz lässt mich hochschrecken, ich habe ihn nie vergessen:
«Immer die Rumsegglerei wäge
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