Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
dem Frässe!» Die Klage über das viele Rumlaufen nach Essen ist bissig, voll Ingrimm. «Rrrrhhhä», macht der Mann dazu, «rrrrhhhä», wie ein großer Rabenvogel. Und mein Vater lacht gequält.
In Wahrheit hatte unser Vater mit der Essensbeschaffung ziemlich wenig zu tun. Wer fürs Vaterland gekämpft habe, den dürfe man nicht zum Hamstern schicken. Selten nur brachte er etwas heim. Einmal hatte er die Backbaracke der Franzosen geweißelt, anschließend vom Tisch die Weißbrotstücke eingesammelt, die sie achtlos hatten liegen lassen.
Mutter ging hamstern. Ich begleitete sie oft auf die Dörfer rings um Freiburg, zu denen man mit der Straßenbahn und etwa einer Stunde Fußmarsch gelangte. Jetzt geh ich mal alleine, dachte ich. Warum nicht? Mein Ehrgeiz war erwacht, in dieser Zeit schlug meine kindliche Abenteuerlust in etwas anderes um: Ich wollte anderen etwas beweisen.
Einige Bauern kannte ich inzwischen gut, und ich wusste genau, wo die bösen Hunde wohnen. Ich schulterte den Rucksack, packte etwas Geld, Haarnadeln, Nähgarn und andere Kleinutensilien zum Tauschen hinein. Was ich ergatterte, war nicht viel, ein paar Äpfel, Kartoffeln, etwas Quark. Auf dem letzten Hof luden sie mich zum Vesper ein. Ein großer runder Tisch und besonders freundliche Leute, es roch süß nach Milch und nach gekochtem Fleisch, fast paradiesisch. Sie sprachen über die Frühjahrsbestellung, dass wieder zu wenig vom Kunstdünger da sei und auch der Stallmist knapp. Mir kam eine glorreiche Idee: Ich wusste vom Bildstein, dass auch menschliche Exkremente zur Düngung verwendet wurden. Ob ich nicht als «Mistmaschine» dableiben könnte, bot ich an, «gegen gute Verpflegung». Großes Gelächter!
«Magdalena ist tüchtig!», hörte ich jetzt öfter. «Auf Magdalena kann man sich verlassen.» Wenn Mutter unterwegs war, nicht selten ganze Wochen lang, kochte ich für die Geschwister, Vater und die Werkstattleute. Mit der Zeit lernte ich, verschiedene Suppen zu machen, aus zerquetschten Bohnen kleine Küchlein. Ich erfand sogar neue Gerichte, für die ich dann gelobt wurde, etwa einen Brotaufstrich aus Linsen und durchgedrehtem Schnittlauch. Selleriescheiben briet ich, schön paniert, die Idee hatte ich mal beim Schlangestehen aufgeschnappt, sogenannte Adolf-Hitler-Schnitzel. Viele Notrezepte bekamen Namen, die besagten, dass diese Art Kocherei eine der Auswirkungen des Tausendjährigen Reiches war.
Tomatenpflege war mein Revier. Gedüngt wurden sie mit Hasenmist, ein Abfallprodukt wiederum von den «belgischen Riesen», die ich auch unter mir hatte. Von einer ihrer Touren hatte Mutter eine kleine buntgescheckte Häsin mitgebracht. Und als die nach einigen Monaten groß war, bin ich mit ihr quer durch die Stadt zu einer Gärtnersfamilie gelaufen. «Sag ihnen, sie sollen sie in den Stall zum Bock stecken.» So kam es, dass sie bald vierzehn Junge warf und der Bedarf an Hasenfutter immens stieg. Auf den Trümmern wuchs viel Grünzeug, Gräser, Löwenzahn und Bärendoben. Nicht alles war zu gebrauchen, Milchdisteln und Konsorten nicht. Einmal entdeckte ich auf dem Gelände einer zerbombten Kaserne, im Bereich der Ställe, kleine Areale von reifem Hafer – das Wunder war offenbar aus Rossbollen gesprossen.
In diesen Jahren habe ich viele Schrammen abgekriegt, eine sehr schlimme. An einem Sommertag geriet ich in eine ehemalige Panzersperre, in einen von hohem Gras verborgenen, rostigen Stacheldrahtverhau. Ein riesiger Schnitt am linken Bein, und ich war in diesem Augenblick ganz allein in der Landschaft. Drauf pinkeln, hatten die Soldaten mal erzählt. Ich setzte mich und ließ an Urin aus mir heraus, was nur kommen wollte. Es brannte entsetzlich, humpelnd schaffte ich es schließlich bis zum nächsten Gehöft. Der Bauer holte die gut versteckte Flasche mit dem stärksten Schnaps und reinigte damit die Wunde, und die Bäuerin schmierte mir noch Butter darüber. Fast ein Jahr brauchte es, bis alles verheilt war.
Im Spätherbst 1946 starb Großvater. Zuletzt war er bettlägerig gewesen und musste künstlich ernährt werden, wozu man auf Schleichwegen entsprechende Nahrungsextrakte aus der Schweiz besorgte. Bis zum Schluss wehrte er sich gegen den Tod, und er wünschte ihn zugleich. Nun war es geschehen. Ohne zu fragen, schnitt ich im Hof die letzte Blüte vom gelben Rosenstock für ihn ab und legte sie in seine kalten, gefalteten Hände. Nie zuvor habe ich mich so sehr allein gefühlt. Am Tag des Begräbnisses riss ich auf dem
Weitere Kostenlose Bücher