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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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vierjährige Schwester, weint jämmerlich auf seinem Arm. Natürlich, sie kennt ihn nicht, bei ihrer Taufe, als er das letzte Mal da gewesen ist, war sie noch viel zu klein.
    Vater sprach damals nicht oft vom Krieg. Vom Nierenbluten erzählte er zu Anfang mal, das ihn «gerettet» habe. Beim Rückzug wäre aus seiner Hose Blut in den Schnee getröpfelt, deswegen hätten ihn die Kameraden auf ein Schiff «nach Dänemark» gesetzt, wo man ihm im Krankenhaus eine Reisdiät verabreichte und ihn, als das Bluten aufhörte, wieder auf ein Schiff brachte, diesmal «nach Norddeutschland». Dort hätte ihn sogleich «der Engländer» gefangen, und irgendwie war er denen entwischt, so etwa, und weiter zu Fuß durch Deutschland bis nach Freiburg, in die Erasmusstraße.
    «Wie ein einzelner Zahn» sei unser Haus, links und rechts davon alles niedergebrannt, berichtete Vater. Bei seiner Rückkehr sei alles dunkel gewesen. «Nur im zweiten Stock hat ein schwaches Lichtle gebrannt.» Manche Formulierungen habe ich behalten bis heute. Vater stockte oft, seine Stimme war anders geworden durch den Krieg, etwas höher, dünner. Meistens erzählte er diese Geschichten nachts, wenn er neben Mutter lag und wir Kinder, wie er glaubte, schon schliefen. «Else lebt, sie leben alle, sie leben, Johann!», habe Tante Melli ihm entgegengerufen. Sie war die Einzige, die bereits wieder im Haus wohnte, und sie schickte ihn zu uns auf den Einödhof.
    Von da an bereiteten wir uns auf die Heimkehr vor. Es wurde viel eingemacht, Mutter wollte partout die Pflaumenzeit abwarten. Vater schlief viel, oder er hockte rauchend auf der Treppe. Drei, vier Wochen dauerte es noch, bis wir auf dem offenen Lastwagen saßen. Wir näherten uns Freiburg in ziemlichem Tempo, und ich wagte nicht, rechts und links zu sehen, ich guckte nur in die Bäume über uns. Sosehr ich heimwollte und mich darauf freute, ich hatte schreckliche Angst vor unserem kaputten Haus. Nachmittags stand ich wieder in unserem Kinderzimmer. Es war beinahe leer, nur die Bettgestelle waren übrig und das kleine Holztreppchen vorn am Fenster, das man brauchte, um auf die Terrasse zu kommen. Da, wo früher der Garten und die Werkstatt waren, lag ein Schuttberg, er ragte fast in das Fenster hinein. Auf dem Schutt wuchsen Blumen, Weidenröschen und viel roter Mohn, der sonst in unserer Stadt nicht heimisch war.
    Wir entdeckten alles nach und nach. Unser Kinderzimmer war größer geworden, die Wand, die es von der Küche trennte, war halb eingestürzt. Wir konnten nun Mutter direkt auf den Kochherd gucken, von der maroden Mauer fielen ständig Krümel in mein Bett. Verkohlte Fensterläden. An den Wänden, draußen und im Hausflur, verbrannte Ölfarbe, sie fühlte sich an wie Fisch mit riesengroßen Schuppen.
    Bis in den Winter hinein waren wir mit Aufräumen beschäftigt. Fenster zunageln, Risse und Ritzen zustopfen. Wir klebten Packpapier über die bröselnden Wände und Säcke an die Decken, denen der Gips fehlte, damit nicht dauernd Dreck auf uns rieselte. Durften wir überhaupt in dem Haus bleiben? Nichts war gewiss. Der Frieden war ausgebrochen, aber er war voller Schrecken – Plünderungen, die nicht aufhörten, es hieß, die Franzosen, vor allem die Marokks, täten den Frauen «ebbis» an. Noch lange bangten wir um unsere Wohnung. Die Besatzungsmacht suchte Quartiere, denn die Familien ihrer Soldaten zogen allmählich nach. Wir hofften inständig, dass unser Haus zu zerbombt war, als dass eine Madame aus Frankreich ihr Auge darauf werfen würde.
    Am schlimmsten war der Mangel an Brennmaterial. Man lernte, alles Brennbare aufzulesen und heimzubringen. Es fand sich vor allem in den zu Bergen getürmten Trümmern. Einerseits verbot man uns, dass wir in den Trümmern herumkraxelten, andererseits strahlte Mutter, wenn wir ein halbverkohltes Balkenstück, einen Türrest oder ein paar Späne mitbrachten. Auch Vater schickte uns nicht gerade raus, um für ihn Zigarettenkippen zu sammeln, doch wir konnten ihn mit Tabakresten friedlich stimmen. Er lobte uns dann, nannte uns «fix». Da war sie wieder, diese zweigleisige Erziehung.
    Ich war selbständig geworden durch den Krieg. Wehe, es würde nochmal einer behaupten: «Magdalena kann das nicht!»
    Wir klauten ganze Bäume am Schlossberg, was nicht ungefährlich war, auch wegen der Blindgänger, die noch nicht alle geräumt waren. Meine Talente waren hier besonders gefragt. Wegen meines schlechten Sehens hatte ich die Angewohnheit, Entfernungen in

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