Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
war es wirklich, 1945.
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Mai
Sobald die Eisheiligen vorüber sind, beginnt die Zeit des Nachttiers Magdalena. Ganz leise, damit Konrad es nicht hört, schleiche ich mich hinaus aus dem Bau. Die kürzeste Tour – fünfzehn Schritte – führt zum Maiglöcklebeet, dann sitze ich auf den Stufen vor der Haustür, Kissen unterm Po, und atme den Duft ein. Man kann ohnmächtig werden davon, so stark ist er in der Nacht. Es werden immer mehr Maiglöckle. Ursprünglich war es nur ein kleiner Busch, der an der Straße stand, jedes Jahr sind sie ein Stückle weiter hoch gewandert, zehn Quadratmeter dürften sie inzwischen erobert haben. In den schmalen Blättern ist immer ein wenig Bewegung, etwas krabbelt darin, der Wind spielt mit ihnen. Aus einem geöffneten Fenster des Nachbarhauses ein leises Schnarchen, ein altes Winzerehepaar, im Duett. Von weiter weg italienische Worte, Flüche vermutlich, normalerweise spricht er Alemannisch, dieser Herr. In der Not fällt der Mensch in die Sprache seiner Kindheit zurück.
Die Nacht macht alles größer, die Ängste, Phantasien, und viele äußere Erscheinungen, wie Kommoden, Vasen, was eben in der Nähe vom Bett so herumsteht. Kleiderschränke werden zu Riesen, so groß muss der Gulliver sein, dachte ich als Kind. Damals fürchtete ich die Nacht weniger als heute, ich horche jetzt viel auf mein Herz und schwitze schrecklich. Im Garten fällt das alles von mir ab. Meistens spaziere ich hinten zur Terrassentür hinaus, bis zur Obstwiese, die sich genau in der Mitte befindet. Das geht leichter und flinker als am Tage, da muss ich viel vorsichtiger sein, weil Konrad mal eine Hacke liegen lässt oder seine Wasserschlauch-Schlangen irgendwo lauern.
Zwei, drei Stunden im Liegestuhl brauche ich, manchmal reicht auch nur eine. Nachts ist viel Betrieb im Garten, du hörst die Igel, mal eine Katze, die jagt. Sie jagen fast alle, die Dorfkatzen, ihre Herrchen und Frauchen wissen es nur nicht, dass ihre lieben Pussis in der Nacht ein wildes Leben führen. Die Regenwürmer bewegen sich, Käferle krabbeln. Ich mache mein Ohr ganz groß, ein Rascheln, ein Knistern überall. Dieses Getier macht einen Radau, unglaublich, was da los ist. Eine Amsel schreckt im Schlaf hoch mit einem lauten «ssiih», singt ein paar Takte, eine kleine Kaskade von Tönen, und schon sind die Spatzen in der Hecke wach. Sie schimpfen, ganz kurz. Dann hat wieder der Wind für eine Weile das Sagen, spielt mit den Blättern, je nachdem, wie stark er ist und woher er weht, die verschiedenartigsten Begleitmusiken.
Vor Mitternacht ist noch ein wenig Tageswärme im Garten. Danach wird es allmählich feucht, das ist auf der Haut zu spüren. Das macht die Düfte noch intensiver, den Flieder, das Faulige darinnen, und das Grün. Der Mai riecht vor allem grün. Die Erde riecht jetzt, sie wird, je weiter die Nacht vorrückt, aktiv. Aus südwestlicher Richtung besonders stark, von dort, wo Konrad wild gegraben und die Dahlienknollen eingebuddelt hat.
Es ist das letzte Mal, dass wir uns diese zwanzig Meter lange Dahlienhecke leisten. Und dann Schluss mit der Viecherei! Zwischen Juli und Oktober ist das leuchtende Rot, solange ich es sah, immer eine gute Orientierung für mich gewesen. In der Mitte der Staudenreihe hat Konrad immer eine Lücke für mich gelassen – zwischen den «Säulen des Herkules», wie er sie nennt, konnte ich mich unauffällig, ohne glotzende Leute fürchten zu müssen, in den Garten tasten.
Was ist der Mai? Sich Blumen holen dürfen! Gartenarbeit an allen Ecken und Enden, die Angst, nicht fertig zu werden. Daraus wird nichts in diesem Jahr, möglicherweise nie mehr. Aber die Nacht bleibt mir – genussvoll im Garten pieseln, wie ein Tier. Träumen.
«Blackbird singing in the dead of night
Take these sunken eyes and learn to see
All your life, you were only waiting for this moment to be free.»
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Lebenstüchtig
Eines schönen Morgens im August lesen wir Mirabellen auf, da lässt Mutter einen Schrei los: «Das ist unser Vater!» Weg ist sie. Sie rennt hinunter ins Tal, und wir hinterher. Er ist da! Ich müsste jubeln vor Freude, denke ich im Laufen, doch in meinem Hals sitzt ein dicker Frosch. Im Gegenlicht sehe ich schemenhaft eine schmale Gestalt. Vater? Ich springe auf ihn zu und drücke mein Gesicht an seinen Arm, erschrecke, Knochen, nur Knochen und darüber verschrumpelte Haut. Dieses verhungerte Männlein soll mein Vater sein? Christel, meine
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