Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
ein dunkles Gesicht mit schneeweißen Zähnen. «Ein Marokk», schoss es mir durch den Kopf. Man hatte schon davon gesprochen, dass die fremden Soldaten größtenteils schwarz seien.
«Uhn, viel Uhn, bum-bum.» Die Stimme war nicht unfreundlich. Zu fünft oder zu sechst waren sie. Ich verstand sofort, die waren hungrig. Auf anderen Höfen hatten sie Hühner abgeknallt.
«Mein Huhn! Ich bin ganz allein!», heulte ich, so laut ich konnte. «Mein Huhn, bitte, nicht totmachen!»
Da geschah etwas Unerwartetes. Einer sagte etwas zum anderen, sie stellten sich alle um mich herum. Mein Schrecken wurde noch größer. Der, der zuerst geredet hatte, nahm mich an der Schulter: «Auge kaputt?» Erst dachte ich, er wollte mir das Auge kaputt machen. Doch er strich mir übers Haar.
«Kein Angst. Armes Kind. Kein Uhn kaputt.» Mir liefen die Tränen übers Gesicht. Von mehreren Seiten klang es jetzt: «Nein, nein, kein Uhn kaputt.» Ich hielt auf einmal etwas in meinen Händen. Als das Motorengeräusch weg war, schaute ich es an, es waren ein paar Stückchen Schokolade.
War der Krieg schon offiziell zu Ende? Ich weiß heute nicht mehr, ob Berlin schon kapituliert hatte oder noch nicht, jedenfalls feierten wir in einer lauen Frühlingsnacht ein Riesenschlachtfest. So viel frisches, gut gewürztes, leckeres Fleisch habe ich nie im Leben gegessen, auch später nicht, in Wirtschaftswunderzeiten. Wir waren satt, todmüde und schliefen in den nächsten Tag hinein, ohne dass uns jemand weckte.
Bis auf weiteres blieben wir auf dem Bildstein. Erlebten noch die Hochzeit mit – der lahme Bauer und die geistesschwache Mina heirateten – und noch eine weitere Jahreszeit, den Sommer.
Schulfrei ohne Ende und viel, viel Arbeit. Obstreife. Erntezeit.
«Wir sind die Sieger!», rief Katarzyna. «Magdalena muss unser Baby hüten!», befahl die Zehnjährige mir, der zwölfjährigen Deutschen. Die erwachsenen Polen, Tomasz und Ewa, unterschieden hingegen zwischen den Evakuierten und den Bauern. Wir gehörten zu den armen Arbeitstieren, somit eher zu den Polen, Andres und Mina und die «Mueter» waren «Herren», denen durfte man gehorteten Kaffee oder Speck wegnehmen. Als die wilden Bergkirschen gebrochen wurden, warf Tomasz mir ganze Zweige mit Früchten herunter. So hoch konnte ich ja nicht klettern, und er wollte galant sein, er sah in mir schon die junge Frau, glaube ich. Zwischendurch brachte er mir polnische Flüche und Kirchenlieder bei.
«Warum geht ihr denn nicht nach Hause?», fragte ich ihn.
«Wir kein Heimat mehr. Wir Katholik und jetzt Russ bei uns, der macht alles kaputt.»
Kaputt, das meistgebrauchte Wort, alles war kaputt oder ging kaputt.
In diesem Juni verlor ich den einzigen Menschen, den ich hier oben wirklich gern hatte, den Fritz. An diesem heißen Nachmittag saß ich wieder in meinem Holunderbusch und ließ die Beine baumeln und horchte auf die Geräusche im nahen Wald. Dort schlugen die Nachbarn Holz. Plötzlich rauschte es stark, die Axthiebe hatten aufgehört. Wenn es beim Holzfällen still wird, wusste ich, kommt ein Baum zu Fall. Ein Schrei zerriss die Luft, es folgte ein lautes Klagen: «Fritz, Fritz!» Ich lief nicht in den Wald, sondern ins Haus, in den Keller, und jammerte still vor mich hin. Warum durfte denn nichts so bleiben? Es war doch genug gestorben worden im Krieg. Abends erzählte man, der Baum habe Fritz’ Brust zerschlagen, er sei sofort tot gewesen. Dreißig Jahre danach erst war ich in der Lage, sein Grab zu besuchen. Es war halb verwildert.
Bilder dieses Sommers werden jetzt wieder lebendig: ich auf dem Rücken von «Fuchs». Es ist mir gelungen, aufzusteigen, schön still hat er gehalten. Sobald er merkt, ich habe ihn fest genug an der Mähne gefasst, marschiert er los. Langsam und gemütlich, immer im Schritt, nur hält er nicht da, wo ich will. Wohin? Er steuert offenbar den Mühlteich an, er will baden, denn es ist heiß. «Fuchs» kann schwimmen und ich nicht, ich halte mich vertrauensvoll oben fest. Dreckig bin ich, von Kopf bis Fuß, man geht eben nicht in voller Montur in einen stillgelegten Mühlweiher. Also ausziehen, Menschen sind keine da, auf das stehende Mühlrad steigen und den Holzkanal über sich ziehen. Schon hat man eine brausende Riesendusche. Socken, Schuhe und den Halbrock samt Hose wasche ich am Zulauf, sie trocknen im Wind. Und ich liege nackig im Gras, zugesehen haben die Vögel und der Gaul, der nach seiner Badekur ein bisschen zartes Bachgras frisst.
Kein Traum. So
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