Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
allem anderen bin ich ausgewichen. Einmal habe ich in heller Panik einen Tanzpartner unter den Tisch geworfen. Es war einer von denen, die ich führen musste, weil er bei jeder Drehung das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Er hatte nur einen Arm, und an dem waren nur zwei Finger übrig. Die bohrte er mir in den Busen. «Du bist so süß, Magdalena.»
Waren diese Verlockungen Sünde? Damit hätte ich vielleicht zur Not leben können. Eher jedenfalls als Heinrich, mein erster wirklicher Freund, der protestantisch war. Bevor er vor Gewissensbissen starb, verzichtete ich lieber auf Zärtlichkeiten. Nur das Tierlein nicht reizen, Magdalena!
Und irgendwo, ganz nahe, war das Dritte Reich. «Erbkrank», seit ich das Wort verstanden hatte, steckte es in mir wie ein vergifteter Pfeil. Du hast schlechtes Erbgut, Magdalena.
Um mich herum liebten sie sich heftig, im Kohlenkeller und wo es eben möglich war. Die heimlich Liebenden gaben einander Tipps, wo es am sichersten ist. Ein sehendes Paar, das miteinander schlafen will, schlägt sich irgendwo in freier Natur in die Büsche, es sieht, ob genügend Deckung da ist, ob es beobachtet wird. Unsereiner muss geschlossene Räume aufsuchen, einen, der mindestens eine quietschende Tür hat, noch besser einen mit langem Flur davor, auf dem man herannahende Schritte rechtzeitig hört. Schmierestehen war einer der meistgefragten Kameradschaftsdienste hier. Sehr, sehr wichtig war, das wurde jedem Neuling eingebläut: Wenn du ein Zimmer betrittst, sag laut «Guten Tag!». Damit jeder weiß, wer kommt da, Lehrer oder Schüler, ein Sehender oder ein Blinder. Hundertmal am Tag grüßen, das kam vor. Nachts haben die Bettstättle in den Mädchenzimmern gewackelt. «Komm, wir spielen noch ein wenig», sagten sie und krochen zueinander. Mädchen, die schon lange in Anstalten lebten, haben das gemacht – ich habe so etwas nicht gekannt.
Nach langem Zögern hab ich mich getraut, unserem Pfarrer einen Kuss zu beichten.
«Ach, das ist nicht so schlimm, wie du glaubst.»
«Keine Todsünde?»
«Nein.»
Ich war erleichtert. Trotzdem empfing ich das «Ego te absolvo» nicht mehr so freudig wie früher. Meine Kirche war mir fremd geworden. Zuletzt hatte ich mich für die «Una-sancta-Bewegung» begeistert, ich war sehr für diese Annäherung der Konfessionen. Zu meiner Enttäuschung ließ die katholische Seite die Sache schleifen. Vielleicht sollte ich zu den Evangelischen übertreten? Mit deren Pfarrer, der mir gefiel, sprach ich darüber. Er riet mir, es nicht zu tun: «Du wärst doch nur in der Wolle gefärbt, Magdalena», meinte er.
Wieder einmal vertiefte ich mich ins Sehen. Nachmittags saß ich in der Amerikabibliothek über den Kunstbänden, entdeckte dort Paul Gauguin und seine leuchtenden flächigen Farben. Ein Himmel in glühendem Gelb, in den ein nachtblauer Berg ragt. Vorn im sehr grünen Gras ein braunes Mädchen, ein fließender orangeroter Rock, der fast in das Gewand der dahinter sitzenden Freundin übergeht. Beide Schönheiten haben Blumen im Haar, gelb. Diese Szene auf Tahiti habe ich in mich aufgesogen. Gelb ist meine Farbe! «Wann heiratest du?» heißt das Bild.
Und dann ging es bei mir richtig los mit dem Malen. Im Amerikahaus gab es Malunterricht. Weil ich kein Geld für Farbe hatte, fragte ich, ob ich auch zeichnen dürfe. «Natürlich, komm ruhig», sagte der Lehrer. Zum ersten Mal im Leben hab ich ein großes Blatt Papier bekommen, einen DIN-A3-Bogen.
«Was möchtest du denn gern zeichnen?»
«Menschen», sagte ich, wie aus der Pistole geschossen.
«Kannst du dir denn einen Menschen vorstellen?»
Ich erzählte dem Lehrer, was ich schon alles gesehen hatte, mit den Griechen und Römern in den Zigarettenbilderalben meines Vaters angefangen, bis zu den Ballettszenen von Degas, die ich gerade studierte. «Menschen sind sooooooooooooo schön!» – «Gut, also Menschen.» Alle anderen im Kurs interessierten sich für Landschaften und Blumen. Ich hab dann begonnen, Menschen zu zeichnen.
«Wieso zeichnest du sie alle nackt?»
«Ich kann ihnen ja nachher Kleider drübermalen.»
«Aber warum erst nackt, das braucht man doch nicht.»
«Weil ich wissen will, wie sie sich bewegen.»
Es war sehr spannend für mich, wie die einzelnen Teile des Menschen, Arme und Beine, Po und Rücken, auch die kleineren Glieder miteinander in Verbindung stehen und zusammenwirken. Das sah ich ja nicht. Das Gleiche bei Tieren. Einem Hasen konnte ich noch mit meinen Händen zu Leibe rücken.
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