Magermilch
durchquerten einen geräumigen Flur, an dessen Ende Martha eine Tür öffnete, die mit einem Panoramabild des Everestmassivs beklebt war.
Fanni trat in den Raum und sah sich einer vertäfelten Wand gegenüber, an der in peinlichster Ordnung Eispickel, Eisschrauben, Klemmkeile, Seile und Bandschlingen hingen. Oberhalb der Holzverkleidung, direkt unter der Decke, gab es drei Fenster. Jedes war gut einen Meter breit, aber nur dreißig oder vierzig Zentimeter hoch. Fanni, klein und schmal, wie sie war, hätte sich von draußen durchzwängen können. Aber was dann? Ihre Beine wären fast zwei Meter über dem Boden gebaumelt, und die Zacken von drei Paar Steigeisen hätten ihr entgegengestarrt.
»Wir machen die Oberlichten nie auf«, sagte Martha, »weil man eine Leiter dazu bräuchte.«
»Könnte man nicht durch einen der anderen Kellerräume …?«, fragte Fanni.
»Es gibt«, antwortete Martha, bevor sie zu Ende gesprochen hatte, »dort entweder gar keine Fenster oder nur solche wie hier«, und wandte sich wieder in Richtung Flur.
Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass der Täter unbemerkt ins Haus eingedrungen ist, dachte Fanni. Er kann ja auch durch eins der Fenster im Erdgeschoss gestiegen sein.
Sie war im Ausrüstungslager stehen geblieben. Ihr Blick wanderte über eine Reihe von Klettergurten – vier alte Kombigurte, zwei neue Hüftgurte. Fanni trat näher und griff nach der Anseilschlaufe an einem der Hüftgurte. Ihre Finger betasteten die Hülle aus Stoff, die einen Teil davon ummantelte. Sie hob die Schlaufe an und hielt sich die Umhüllung vor die Augen. »Martha Stolzer« war darauf eingestickt. Fanni sah zu Martha hinüber, die an der Tür auf sie wartete. »Service vom Hersteller?«
Martha lachte spöttisch. »Von Gisela. Du kennst sie doch. Extravagant bis zum kleinen Zeh. Vor ein paar Monaten hat sie uns alle mit einem Monogramm im Klettergurt beglückt.«
»Wer hat denn das eingestickt?«, fragte Fanni. Die Arbeit schien ihr wenig professionell. Die Stickstiche waren so ungleichmäßig ausgeführt, dass die Buchstaben wie beschwipst herumtorkelten.
Martha zuckte die Schultern. »Ich hab nicht nachgefragt. Giselas Schneiderin vielleicht. Die neue, die ihr für das Sommerfest ein Kleid aus fünf Metern Chiffon genäht hat, die eigentlich nur Giselas rechte Pobacke und ihre linke Schulter verhüllten.« Sie ging in den Flur hinaus.
Als sich Fanni ebenfalls der Tür zuwenden wollte, fielen ihr die Steigeisen ins Auge.
Drei Paar.
Müssten es nicht vier Paar sein?
Fanni ließ den Blick durch den Raum schweifen und entdeckte plötzlich überall Lücken. Ebenso wie der vierte Eispickel fehlte ein Paar Bergschuhe in einer Reihe auf einem Rost, der an der Wand links von der Tür entlanglief.
Fannis Zögern, ihr zu folgen, ließ Martha umkehren. Offenbar merkte sie, was Fanni aufgefallen war, denn sie sagte: »Gisela ist ausgezogen. Hast du das nicht gewusst?«
Hans Rot hat mitnichten ein Lügenmärchen erzählt!
»Ich hab gehofft, dass es nicht stimmt«, erwiderte Fanni.
Schweigend gingen sie die Treppe hinauf. Erst als sie wieder auf dem Sofa saßen, fragte Fanni: »Warum? Warum hat sich Gisela von Toni getrennt?«
Martha stützte den Kopf auf die Hände. »Du hast sie doch selbst gut gekannt. Kannst du es dir nicht denken?«
Fanni zuckte die Schultern. »Was weiß ich schon von ihr? Gisela hat viel Wert auf ihr Äußeres gelegt …«
»Und viel Geld dafür ausgegeben.«
Weil Martha nicht weitersprach, fuhr Fanni fort: »Gisela hat sich gern in Szene gesetzt, wollte immer im Mittelpunkt stehen. Sie brauchte ihre bizarren – oder sollte ich besser sagen frivolen? – Auftritte wie die Luft zum Atmen. Toni stand abseits und sah ihr dabei zu. Aber ohne Toni hätte ihr wohl der nötige Sockel gefehlt.«
»Sockel«, lachte Martha freudlos. »Gisela hat der Holzsockel nicht gereicht. Sie wollte einen aus Glitzersteinen. Den hat sie nach all den Jahren scheint’s gefunden.«
Fannis Augen weiteten sich. Bevor sie jedoch dazu kam, eine der vielen Fragen zu stellen, die ihr durch den Kopf schossen, klopfte es an der Wohnungstür.
Auf Marthas knappes »Ja bitte« erschien Fritz Maurer.
»Die Tür war nur angelehnt«, entschuldigte er sein Eindringen. »Da habe ich mir das Klingeln gespart, um dich nicht grundlos durch den Flur zu scheuchen.«
Martha sprang auf. »Der Doktor hat doch gesagt, du sollst dich hinlegen. Fritz, bitte sei vernünftig. Es wäre eine Katastrophe, wenn du –«
»Ist
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