Magermilch
schädliche Gräser befanden. Die anderen meinen, Magermilch hätte absichtlich was ins Futter gemischt, um die Rindviecher, die er hasste, zu vergiften. Wenn er das getan hat und damit erreichen wollte, nicht Bauer werden zu müssen, konnte er sich gratulieren.«
Frau Brunner war deutlich anzusehen, was sie von Halbwüchsigen hielt, die Opferstöcke ausraubten, die Beute verzockten und womöglich den eigenen Viehbestand vergifteten.
»Wie auch immer es dazu kam«, fuhr sie fort, »eines Nachts erkrankten sämtliche Kühe. Etliche starben, ein paar erholten sich wieder, gaben allerdings keine Milch mehr – oder nur unbrauchbare Milch, seltsam verfärbte. Niemand weiß es genau. Ein paar Stockheimer Spaßvögel behaupten, sie gaben Magermilch. Jedenfalls waren die Kühe zu nichts mehr nütze, deshalb musste sie der Lehmackerbauer wohl oder übel weggeben. Sein Sohn verschwand von der Bildfläche.«
Sie goss Fanni Kaffee nach und sagte dabei nachdenklich: »Wenn in Stockheim die Rede auf Magermilch kommt, heißt es ja immer, er wäre ein recht talentierter Bursche gewesen. Ein hervorragender Sportler, ein Spitzenfußballspieler, aber auch gut in der Schule. Ein ausgesprochen heller Kopf. Ich fürchte, daran, dass er auf die schiefe Bahn geraten ist, trägt Johann nicht wenig Schuld.«
»Hm«, machte Fanni. »Johann blieb verschwunden, aber Magermilch ist wieder aufgetaucht.«
»Seit einiger Zeit scheint er seine Eltern regelmäßig zu besuchen«, bestätigte Frau Brunner. »Jedenfalls sehe ich öfter diesen Wagen zum Hof fahren. Wer drinsitzt, kann ich eigentlich nicht sagen. Ich nehme halt an, dass es Magermilch ist.«
Oder Hannes Gruber!
»Der Hof wird wohl nicht mehr richtig instand gehalten?«, fragte Fanni.
Frau Brunner verneinte. »Nachdem es mit der Milchwirtschaft vorbei war, hat die Lehmackerbäuerin Näharbeiten übernommen – Säume kürzen, Hosenbund weiter machen, solche Sachen halt. Aber was sie damit verdiente, hat hinten und vorne nicht gereicht. Und als ihre Finger immer arthritischer wurden, nahm es sowieso ein Ende. Bald mussten die Bauersleut nach und nach den Traktor samt Mähwerk, den Heuwender und das gesamte Arbeitsgerät verkaufen. Und als das alles weg war, stand die erste Wiese unter ›Angebote‹ im Tagblatt.«
Frau Brunner legte die Fotografie in die Pappschachtel zurück und stellte sie aufs Fensterbrett. »Aber jetzt müssen Sie erzählen! Was tut sich so in Deggendorf?«
»Ich bekomme selbst nicht viel mit«, antwortete Fanni ausweichend. »Treffe nur selten Bekannte. Gisela hab ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen.«
Frau Brunner seufzte. »Wir sehen sie auch sehr, sehr selten, und genauso selten lässt sie was von sich hören. Manchmal bedaure ich es, dass mein Mann und ich hierhergezogen sind.« Sie stützte den Kopf in die Hände. »Ich hatte gehofft …«
Fanni wartete.
»Als wir noch in Niederalteich wohnten«, sagte Frau Brunner, »hat uns Gisela mindestens einmal pro Woche besucht. Seit wir hier sind, sind ihre Besuche und Anrufe von Jahr zu Jahr spärlicher geworden. Wir selbst können ja nicht mehr verreisen, seit mein Mann den Schlaganfall hatte.« Sie wischte sich die Augen. »Es ist jetzt gut vier Monate her, dass Gisela an diesem Tisch saß und sagte, sie würde sich von Toni trennen. Was habe ich nicht alles versucht, um ihr das auszureden. Aber Gisela hat bloß gelacht. ›Mama‹, hat sie gesagt, ›ich habe den Mann gefunden, der mir meinen Traum erfüllt.‹«
»Was ist das für ein Traum?«, fragte Fanni.
»Das Einzige, wovon Gisela von Kind an träumte, war, Schauspielerin zu werden. Doch dafür ist sie ja wohl inzwischen zu alt.« Frau Brunner sah Fanni traurig an.
»Hat sie denn weiter gar nichts über ihre Pläne verlauten lassen?«, hakte Fanni nach.
Frau Brunner schüttelte den Kopf. »Nur dass sie verreisen wolle, sich aber ganz bestimmt bald wieder melden würde, und dass ab Juni ihre Post hierhergeschickt werden soll. Dann habe ich wochenlang nichts mehr von ihr gehört. Eines Tages ist mir die Warterei zu bunt geworden, und ich hab in Deggendorf angerufen.« Sie sah verlegen auf ihre Hände. »Ich hab halt gehofft, Gisela wäre inzwischen von ihrer Reise zurück und alles hätte sich eingerenkt.«
Entschieden hob sie den Blick. »Weil am Privatanschluss keiner abnahm, hab ich es in der Firma probiert. Da war Willi am Apparat. Er meinte, ich sei nicht der einzige Mensch, den Gisela derart verstört zurückgelassen hätte. Er schien
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