Magermilch
Frau kam Fanni vage vertraut vor.
»Und sobald sie verwelkt sind«, fuhr sie fort, »machen sie richtig Arbeit. Jede Blüte muss abgeschnitten werden, sonst sieht es hier aus wie am Wüstenrand.«
Fanni nickte verständnisvoll. Neben ihrer Garage wuchs nur ein kleines Büschel solcher Lilien, dem sie jeden Morgen böse Blicke zuwarf, wenn wieder Blütenblätter auf dem Pflaster lagen.
Das ist sie doch, oder? Das ist Giselas Mutter!
Fanni zögerte.
Ihr Gegenüber sah sie plötzlich abwägend an. »Ich weiß nicht recht …«, begann die Frau, dann verstummte sie.
Fanni lächelte befangen. »Ich dachte auch gerade, ich müsste Sie kennen.«
Es war wieder einen Moment still, dann sagte Fanni: »Mein Name ist Fanni Rot, ich komme aus Erlenweiler, einem kleinen Ort an der Donau, und bin zu Besuch bei meiner Tochter hier.«
Die Frau hinter dem Zaun schlug sich die Hand an die Stirn. »Fanni Rot, natürlich. Sie gehören zu Giselas Freundeskreis, zu den Bergsteigern.«
»Und Sie sind Giselas Mutter«, sagte Fanni. »Ich erinnere mich, dass wir auf der Feier zum Firmenjubiläum der Stolzers zusammen an einem Tisch saßen.«
Giselas Mutter schmunzelte. »Das ist aber lange her. Warum sind Sie nicht öfter zu Festen gekommen? Gisela hat eine ganze Menge veranstaltet.«
Weil ich Partys, Feiern und derartigen Veranstaltungen noch nie etwas abgewinnen konnte, dachte Fanni.
Laut sagte sie: »Mir hat einfach die Zeit dazu gefehlt.«
Frau Brunner pulte die Gartenhandschuhe von ihren Fingern und deutete zu einem Türchen im Zaun. »Sie müssen ein Tässchen Kaffee mit mir trinken, Frau Rot, und mir erzählen, was sich rund um Deggendorf so tut.«
»Gern«, erwiderte Fanni.
Du solltest lieber zum Sportplatz zurückgehen. In der Halbzeitpause wird es auffallen, wenn du nicht da bist!
Gar nicht, lehnte sich Fanni gegen Wichtel Wichtigtuer auf. Mäxchen wird mit den anderen Spielern in die Kabine gehen; Bernhard wird mit dem Filialleiter von Stockheim fachsimpeln, und beide werden so tun, als hätten sie die Bankenpleite verhindern können, wenn man sie nur gelassen hätte; Vera wird inmitten eines Pulks junger Mütter stecken; Minna wird ein paar Freundinnen entdeckt haben, mit denen sie herumalbern kann. Hans Rot wird versuchen, als Ehrenmitglied in den FC aufgenommen zu werden. Und ich werde mir keinesfalls die Gelegenheit entgehen lassen, etwas über Gisela zu erfahren.
Giselas Mutter war inzwischen am Zaun entlang zu dem Türchen gegangen und hatte es geöffnet. Während Fanni darauf zuschritt, ratterte ein Wagen die Straße entlang. Kurz bevor sie durch die Gartenpforte trat, drehte sie sich um und sah ihm nach. Was sie da erblickte, ließ sie wie erstarrt stehen bleiben.
Frau Brunner hatte offenbar wahrgenommen, worüber Fanni so staunte, denn sie deutete auf die Kurve, in der das Auto soeben verschwunden war, und sagte: »Das war Magermilch. Er stammt von dem Hof dort hinten.«
Hinter Obstbäumen erspähte Fanni eine baufällige Scheune und ein Stück bemoostes Dach.
»Fährt ein ganz schön auffälliges Auto«, fügte Frau Brunner hinzu. »Aber er soll ja schon immer aus dem Rahmen gefallen sein.«
»Magermilch?«, fragte Fanni.
»Der Sohn vom Lehmackerbauer«, erklärte Frau Brunner und zuckte die Schultern. »Manchmal frage ich mich, ob überhaupt jemand ihren wirklichen Namen kennt. ›Lehmackerbauer, Lehmackerbäuerin, Magermilch.‹ So heißen sie hier. Der Sohn kam zu dem Spottnamen, weil die Lehmackerbauern arm waren und ihre Kühe wenig Milch gaben. Irgendwann wurde den Rindviechern vom Lehmackergrund nachgesagt, sie gäben nur Magermilch. Und dann der Hoferbe: spindeldürr mit bläulich-blasser Haut und wässrigen Augen. ›Wie soll ein Kind wohl sonst aussehen, das mit Magermilch aufgezogen wurde?‹, hieß es im ganzen Gäu. Und dem Buben blieb der Name.«
»Und die drei bewirtschaften gemeinsam den Hof?«, erkundigte sich Fanni.
Frau Brunner schüttelte den Kopf. »Seit vor Jahren in einer einzigen Nacht der halbe Viehbestand einging, ist Magermilch von hier verschwunden.«
Fanni starrte wieder auf die Kurve, als erwarte sie, jeden Moment wieder jenen roten, am Heckfenster mit Aufklebern bestückten Wagen auftauchen zu sehen, der dem von Hannes Gruber zum Verwechseln ähnlich sah.
Frau Brunner winkte sie durch die Pforte. »Das ist eine lange Geschichte. Aber wenn Sie wollen, erzähle ich sie Ihnen, denn sie hat auch einiges mit unserer Familie zu tun.« Sie zwinkerte. »Aber nachher
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