Magermilch
müssen Sie mir sämtliche Neuigkeiten aus Deggendorf berichten.«
Täuscht ihr Verhalten, oder hat Giselas Mutter keine Ahnung von den Ereignissen? Von Willis Tod?
Frau Brunner führte Fanni in die Küche und begann sogleich mit geschäftigen Handgriffen. Sie füllte Kaffeepulver in den Filter der Maschine, stellte Teller und Tassen auf den Tisch, richtete Kekse in einer Schale an. Als die Kaffeemaschine durch ein rachitisches Gurgeln zu erkennen gab, dass sie ihr Werk vollbracht hatte, rückte Frau Brunner für Fanni einen Stuhl zurecht und nahm dann ihr gegenüber Platz. Sie schenkte ein, reichte Fanni Milch und Zucker, nahm selbst von beidem und trank einen Schluck Kaffee. Plötzlich sprang sie wieder auf, eilte hinaus und kam wenig später mit einem Pappkarton zurück. Sie suchte eine Weile darin herum, dann zog sie mit befriedigter Miene eine Fotografie daraus hervor.
»Ich wusste doch, dass ein Bild von ihm da sein muss.« Sie hielt es Fanni vor die Augen. »Das ist Johann. Da war er sieben.«
»Johann«, wiederholte Fanni dümmlich.
»Der Neffe meines Mannes und das schwarze Schaf der Familie.«
»Hübscher Junge«, murmelte Fanni.
Auffällig hübsch sogar! Blond gelockt! Einem Werk von Raffael entsprungen!
»Er sieht aus wie ein Engel, nicht wahr?«, sagte Frau Brunner. »In Wirklichkeit war er damals schon ein Teufel. Seine Mutter starb, als er vierzehn war, sein Vater drei Jahre später. ›Der frühe Tod seiner Eltern geht auf Johanns Konto‹, hat Tante Doris – sie war seine Großmutter – immer gesagt, und ich glaube, auch sie selbst musste aus Kummer über diesen ungeratenen Enkel, der leider ihr einziger war, vorzeitig sterben.«
Frau Brunner machte eine Verschnaufpause. Fanni wartete geduldig.
»Zugegeben«, fuhr Frau Brunner fort, »Tante Doris hatte ein Herzleiden, sie musste laufend Medikamente einnehmen. Aber damit hatte sie die Erkrankung ihr Leben lang gut im Griff. Und dann lag sie eines Tages tot in ihrem Häuschen. Nachbarn haben sie gefunden.«
Wieder verschnaufte Frau Brunner für einen Moment.
»Zwei Tage später«, erzählte sie weiter, »haben wir erfahren, dass uns Tante Doris das Häuschen vererbt hat. Bald darauf sind wir eingezogen.« Liebevoll strich sie über die offensichtlich frisch tapezierte Wand, an die eine Schmalseite des Tisches gerückt war. »Doris hat gewusst, dass ihr Eigentum bei uns in guten Händen sein würde. Wir hegen und pflegen es. Erst letzte Woche hatten wir den Maler und den Spengler da. Seit mein Mann den Schlaganfall …«
Fanni biss die Zähne zusammen. Die Zeit läuft mir weg!
Du wirst sie die gesamte Geschichte erzählen lassen müssen, von vorne bis hinten!
»Was ich von Johann weiß«, hörte Fanni und blendete sich wieder ein, »hat Doris uns bei ihren wenigen Besuchen in Niederalteich erzählt. Der Bub muss von Jahr zu Jahr schlimmer geworden sein. Und nachdem er sich mit dem Nachbarsbuben vom Lehmackerhof« – Frau Brunner zeigte mit dem rechten Daumen über die Schulter – »angefreundet hatte, lief seine Zügellosigkeit auf Straftaten hinaus.« Sie wiegte bedauernd den Kopf. »Als man eines Tages in Sankt Magdalena den Opferstock aufgebrochen fand und kurz darauf Johann und seinen Freund aus einem illegalen Spielclub holte, kam Johann in ein Heim für Schwererziehbare. Mit achtzehn, bald nachdem sein Vater gestorben war, zog er ganz weg.« Frau Brunner dachte einen Augenblick lang nach. »Johann muss inzwischen auf die fünfzig zugehen – wenn er noch lebt.«
Fanni kaute auf ihrer Unterlippe. Zwei Nachbarsjungen mit krimineller Vergangenheit. Einer von ihnen fuhr einen Wagen wie Hannes Gruber, einen solchen, wie Fanni ihn auf dem Kundenparkplatz der Firma Stolzer gesehen hatte. Waren die Autos identisch?
»Was ist aus Magermilch geworden?«, fragte sie. »Kam er auch ins Heim?«
Frau Brunner schüttelte den Kopf. »Seine Eltern haben wohl hoch und heilig versprochen, ihn an die Kandare zu nehmen. Er war ihr einziger Sohn, er war der Hoferbe. Aber nachdem bald darauf fast alle Kühe eingingen, gab es nicht mehr viel zu erben.«
»Eine Seuche?«, fragte Fanni.
Frau Brunner zuckte die Schultern. »Ich kenne die ganze Geschichte selbst nur vom Hörensagen. Das hat sich ja alles ereignet, bevor wir hierhergezogen sind. Die Stockheimer sind sich offenbar nicht ganz einig, wie es zu dem Unglück im Stall vom Lehmackerhof kam. Die einen sagen, die Bauersleut hätten den Kühen Grünfutter gegeben, in dem sich allerhand
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