Magermilch
Himmelfahrtstag, waren Fanni und Hans Rot zum Match gegen Groß Rohrheim mitgegangen. Fanni hatte sich eineinhalb Stunden lang für Veras Betragen geschämt. An der Balustrade, an der die Zuschauer lehnten, weil Sporttaschen und Trikots die ohnehin einzige Bank belegten, war sie Stück für Stück weiter von ihrer Tochter abgerückt, und sie hatte sich geschworen, nie wieder ein Fußballspiel zu besuchen. Selbst und erst recht dann nicht, wenn es ihr Enkel Max eines fernen Tages bis in die deutsche Nationalmannschaft schaffen sollte.
Als Fanni kurz nach ihrer Ankunft in Veras Küche trat, standen noch die Reste des Frühstücks samt den benutzten Tassen und Tellern auf dem Tisch. Sie sah auf die Uhr: kurz nach elf.
Veras Clogs klapperten die Treppe vom ersten Stockwerk herunter. An der Küchentür machten sie kurz halt.
»Endlich seid ihr da«, rief Fannis jüngste Tochter. »Kannst du schon mal mit dem Kochen anfangen, Mama? Wir müssen pünktlich um zwölf mittagessen, sonst kommen wir zu spät auf den Platz. Ich hab das Trikot vom Max noch in der Waschmaschine …« Das Ende des Satzes ging im neuerlichen Klacken ihrer Holzsohlen unter, das aber plötzlich wieder innehielt. »Im Gemüsefach liegt Pute«, vernahm Fanni, dann eilte ihre Tochter weiter.
Fanni fand das Fleisch neben zwei Paprikaschoten und einigen runzligen Karotten. Sie vermutete, dass es sich um diejenigen handelte, die sie bei ihrem letzten Besuch mitgebracht hatte.
Putengeschnetzeltes mit Nudeln, entschied sie und machte sich an die Arbeit.
Max platzte in die Küche, nahm sich einen Karottenschnitz und begann zu plappern. »Unbesiegt schon in der zweiten Saison …«, schnappte Fanni auf. »Ein echter Knüppler, der Mittelstürmer … Und der Stockheimer Torwart …«
Stockheim.
Fanni ließ Spirelli ins kochende Wasser rieseln. Wo hatte sie nur in den letzten Tagen …
»Mamis Freundin Gesa ist seine Tante, aber …«
Gesa, Gesa, Gisela. Der Deckel schepperte auf den Topf. Martha hatte gesagt, dass Giselas Eltern seit etlichen Jahren im Rheinland wohnten. Sie hatte auch den Ort erwähnt: Stockheim. Dorthin wurde Giselas Post geschickt, dorthin liefen die Unterhaltszahlungen.
»Du kommst doch heute wieder mit, Omi?«
»Natürlich«, antwortete Fanni. »Wie weit ist es denn bis Stockheim?«
Max legte die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. »Also, da müssen wir fast eine Stunde Auto fahren, beinahe bis hinter Oestrich.«
Gehörte »Hinter-Oestrich« zum Rheinland? Fanni hoffte es. Denn wenn nicht, dachte sie, findet das Fußballspiel dummerweise im falschen Stockheim statt.
Der Wirbel auf dem Fußballplatz berührte Fanni noch peinlicher als beim letzten Mal. Vera hatte eine Tröte mitgebracht. Als sie hineinblies, trat Fanni einen Schritt zurück, dann noch einen und noch einen.
Der Schiedsrichter pfiff ein Foul von Max. Vera tobte. Fanni nutzte den Aufruhr um sich herum und schlich sich davon. Falls sie rechtzeitig zurück war, würde niemand ihr Fehlen bemerken.
Sie hielt auf einen Feldweg zu, auf dem ihr ein Spaziergänger mit Dackel entgegenkam.
Der Mann wohnt sicher ganz in der Nähe. Du könntest ihn nach Giselas Eltern fragen, wenn du ihren Mädchennamen wüsstest!
»Brunner«, murmelte Fanni.
Sie sprach den Herrn an.
»Margot und Hugo Brunner«, antwortete der. »Die wohnen gleich hinter dem Wäldchen in einem gelben Haus mit Schieferdach.« Er deutete den Feldweg entlang, der sich zwischen Bäumen verlor.
Fanni folgte dem Hinweis.
Nachdem sie ein paar Minuten unter Weiden an einem Bächlein entlanggelaufen war, kam sie an einen Holzsteg, der ans andere Ufer führte. Sie ging hinüber und auf einem Trampelpfad weiter. Er endete nach wenigen Metern im rückwärtigen Areal eines dörflichen Supermarkts.
Fanni umrundete das Gebäude und gelangte in eine schmale Straße, die von Einfamilienhäusern gesäumt war.
Nach einer kurzen Strecke blieb sie vor einem der Häuschen stehen und bewunderte die Lilien, die in leuchtendem Orange und dunklem Lila am Zaun entlang blühten. Hinter der Blumenrabatte erschien ein gelbes Haus mit Schieferdach im Blickfeld.
»Wirklich schade, dass die ganze Pracht in ein, zwei Wochen verwelkt sein wird«, sagte eine Stimme. Hinter dem Zaun erhob sich eine Frau knapp in den Siebzigern aus der Hocke und bog behutsam den Rücken durch. Fanni hatte sie zuvor ebenso wenig bemerkt wie den roten Plastikkübel, der die Stelle markierte, an der die Frau Unkraut gejätet hatte.
Die
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