Magermilch
Häufchen Schulkinder machte sich soeben gestikulierend und debattierend auf den Heimweg. Die verbliebenen Zuschauer schrien noch immer wild durcheinander. Auf dem Spielfeld hatten sich die Klein Rohrheimer Nachwuchsspieler um ihren Trainer geschart. Von den Stockheimer Spielern gab es nicht die geringste Spur.
Sie müssen die Verlierer sein!
Plötzlich riss es Fanni fast von den Füßen. Dicht neben ihr tönte eine Tröte – drei-, viermal hintereinander. Dann hörte sie Veras Stimme in ihr linkes, nun schier taubes Ohr brüllen: »Na, was sagst du? Ist er nicht ein Ass, mein Sohn! Er hat sie rausgekickt, er hat sie rausgekickt.«
Sie sind die Verlierer, die Stockheimer!
Wenig später hockte Fanni auf einer der eilig aufgestellten Bierbänke in dem bis auf Theke mit Zapfhahn und zwei runden Tischen mit Stühlen drumherum kahlen Aufenthaltsraum des Sportheims, wo es nach verschwitzten Trikots, altem Linoleum und nassen Socken stank. Sie hielt sich an einer Limonadenflasche fest, versuchte, ihre Ohren vor dem Geschrei um sie herum zu verschließen, und dachte über Hannes Gruber nach.
Was wusste sie von ihm? Wenig, musste sie sich sogleich eingestehen. Sie und Hans Rot waren in den Achtzigern dem Alpenverein beigetreten. Damals waren die Stolzers (Willi und Martha, Toni und Gisela) und die Hummels (Rudolf und Gunda) schon dabei gewesen. Die Grubers – Hannes und Elvira – waren kurz nach den Rots dazugekommen. Bald darauf begannen die fünf Paare, gemeinsam in die Berge zu fahren.
Zu jener Zeit hat Hannes angefangen, seinen roten Sportwagen mit Aufklebern zu bepflastern, erinnerte sich Fanni. Alle haben darüber gelästert. Sogar Elvira. Sie hat das »Rennauto«, wie sie sein Auto nannte, sowieso nie gemocht. Hätte lieber einen Wagen gehabt wie Willi, einen – wie hieß er? Passat, ja Passat –, in dem es viel Platz gab.
Willst du herumträumen oder dich wieder auf Hannes Gruber besinnen?
Hannes, ja, Hannes.
Er war damals schon mit Elvira verheiratet gewesen, der Tochter eines Bauunternehmers aus Plattling. Aber noch nicht lange. Alle Welt redete gerade davon, dass Hannes dabei war, sich mit Hilfe einer kräftigen Finanzspritze von seinem Schwiegervater einen Holzhandel aufzubauen.
Mit den Jahren hat sich Gruber-Hölzer recht gut gemacht, dachte Fanni. Elviras Vater hätte sein Geld bestimmt schlechter anlegen können.
Gruber-Hölzer, sinnierte sie, wie heißt es in den Werbeanzeigen von Hannes’ Firma? »… seit mehr als zwanzig Jahren bedienen wir unsere Kunden zuverlässig, pünktlich …« Na ja, egal. Jedenfalls betreibt Hannes das Geschäft seit Ende der Achtziger.
Und was trieb er davor?
Fanni versuchte, sich etliche Jahre zurückzuversetzen. Ihre Gedanken wanderten auf Bergpfaden, die sie und die anderen gemeinsam mit Hannes gegangen waren, kehrten in Hütten ein, in denen sie übernachtet hatten, trafen auf dies und auf das.
Nur auf sein Vorleben triffst du nicht! Was hat der Kerl bloß gemacht, bevor er sich Elvira mitsamt einem Batzen Geld unter den Nagel riss?
»Bin ganz schön herumgekommen in jungen Jahren«, hatte Hannes einmal an einem Hüttenabend erzählt, nachdem er eine halbe Flasche Zwetschgenbrand geleert hatte. Und Fanni erinnerte sich an den lallend vorgebrachten Satz: »Am aufregendsten war meine Zeit als Elefantenpfleger in Hellabrunn.« Damals hatten sie alle gelacht. Hannes hielt sie zum Besten, was sonst?
Was wohl wirklich seine aufregendste Zeit war?, sinnierte Fanni.
Vielleicht die als Croupier im Spielcasino von Bad Sowieso?
Nein, welches Casino würde schon einen Spieler als Croupier einstellen?
Sie brütete weiter vor sich hin, bis ihr klar wurde, dass Hannes nie erwähnt hatte, wo er aufgewachsen war und was seine Eltern machten. Warum, fragte sich Fanni, hat uns auch Elvira nichts erzählt? Sie musste doch wissen, wo Hannes herkam, musste ihre Schwiegereltern kennen.
Weil sich keiner von euch je für diese Dinge interessierte! Dich hat ja auch niemand gefragt, wo du zur Schule gegangen bist oder seit wann du in Erlenweiler wohnst!
Stimmt, dachte Fanni, wir haben uns über Bergtouren unterhalten, über Klettersteige, über Schraubkarabiner und über Daunenjacken von Salewa. Manchmal haben wir über Kinder gesprochen. Aber ganz selten, weil nur Hans und ich welche hatten – und die Hummels. Die hatten einen Sohn. Gisela interessierte dieses Thema nicht im Mindesten, und Martha ist dabei immer furchtbar traurig geworden. Ob sie wohl gern welche gehabt
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