Maggie O´Dell 01 - Das Boese
als Zeitungsausträger. In dem Artikel hieß es, dass das FBI und die Mutter auf eine Lösegeldforderung gewartet hatten, die nicht einging. Schließlich hatte Sheriff Morrelli den Körper des Jungen auf einer Weide am Fluss gefunden.
Er überflog den Abschnitt noch einmal. Morrelli? Nein, das hier war Nicholas Morrelli, nicht Antonio. Wie schön, dachte er, dass Vater und Sohn dieselbe Erfahrung machen dürfen.
Der Artikel hob die Ähnlichkeit dieser Tat mit der Ermordung von drei kleinen Jungen in derselben Gemeinde vor über sechs Jahren hervor. Die Körper der strangulierten und erstochenen Jungen waren Tage später in verschiedenen abgelegenen Waldstücken gefunden worden.
Der Artikel verzichtete jedoch auf Details und erwähnte nichts von den sorgfältigen Einschnitten im Brustbereich. Hoffte die Polizei, dieses Merkmal wieder zurückhalten zu können? Kopfschüttelnd las er weiter.
Er benutzte sein Filetiermesser, um Gelee auf dem verbrannten Muffin zu verteilen. Der Toaster funktionierte schon seit Wochen nicht mehr richtig. Aber hier zu frühstücken, war besser als mit den anderen in der Küche. In seinem Zimmer konnte er wenigstens in Ruhe essen und die Zeitung lesen, ohne gezwungenermaßen höfliche Konversation zu betreiben.
Der Raum war sehr schlicht, weiße Wände und Hartholzboden. Mit seinen fast zwei Metern passte er gerade so in das schmale Bett. In manchen Nächten ragten seine Füße über das Ende des Bettes hinaus. Er hatte einen kleinen Tisch mit Resopalplatte und zwei Stühle hinzugefügt, trotzdem gestattete er niemand, ihm Gesellschaft zu leisten. Auf dem Servierwagen in der Ecke stand der gebrauchte Toaster, das Geschenk eines Gemeindemitgliedes. Außerdem besaß er eine Kochplatte und einen Kessel, mit dem er Tee zubereiten konnte.
Auf seinem Nachttisch stand sein aufwendigster Einrichtungsgegenstand: eine verzierte Lampe, deren Fuß ein Relief geschmackvoll arrangierter Cherubine und Nymphen darstellte. Eines der wenigen Dinge, die er von seinem mageren Gehalt gekauft hatte. Das und die drei Gemälde. Sie hingen dem Bett gegenüber an der Wand, damit er sie beim Einschlafen betrachten konnte, obwohl er in letzter Zeit nicht gut schlief. Er konnte nicht, wenn das Pochen im Kopf begann, in sein ansonsten ruhiges Leben eindrang und mit seinen schlimmen Erinnerungen kollidierte. Obwohl sein Raum sehr schlicht war, verschaffte er ihm kurze Momente der Behaglichkeit, der Sicherheit und des Alleinseins in einem Leben, das nicht mehr ihm gehörte.
Er sah auf die Uhr und rieb sich mit der Hand übers Kinn. Heute musste er sich nicht rasieren, sein jungenhaftes Gesicht war noch glatt von der gestrigen Rasur. Er hatte Zeit, zu Ende zu lesen, obwohl er die lächerlichen Artikel über Ronald Jeffreys nicht mehr ansehen mochte. Jeffreys hatte die Aufmerksamkeit, die man ihm schenkte, nicht verdient. Sogar nach seinem Tod stand er noch im Rampenlicht.
Er beendete sein Frühstück und säuberte den Tisch mit größter Sorgfalt. Kein Krümel entging seinen raschen Wischbewegungen mit dem feuchten Lappen. Er holte die inzwischen von allen Lehmpartikeln sauber geschrubbten Schuhe aus dem kleinen braunfleckigen Spülbecken und bedauerte, sie nicht rechtzeitig ausgezogen zu haben. Er schüttelte sie trocken und stellte sie beiseite, um den einzigen Teller zu spülen, den er besaß: einen zerbrechlichen, handgemalten Noritake, den er sich vor langer Zeit aus dem Porzellanschrank der Gemeinde geborgt hatte. Die passende Teetasse - samt Untertasse ebenfalls geborgt - füllte er bis zum Rand wieder mit kochend heißem Wasser auf. Graziös tauchte er den bereits benutzten Teebeutel wieder ein und wartete, dass das Wasser die richtige bernsteinfarbene Färbung annahm. Dann zog er ihn rasch heraus und quetschte ihn aus, damit er auch den letzten Tropfen hergab.
Nachdem dieses morgendliche Ritual beendet war, ging er auf Händen und Knien zu Boden und zog eine hölzerne Kiste unter dem Bett hervor. Er stellte sie auf den kleinen Tisch und ließ die Finger über die aufwendige Schnitzarbeit gleiten. Nachdem er sorgfältig die Zeitungsartikel ausgeschnitten hatte, wobei er die von Ronald Jeffreys überging, öffnete er die Kiste und legte die gefalteten Artikel zu den anderen, die schon teilweise vergilbt waren. Zugleich überprüfte er den übrigen Inhalt: ein strahlend weißes Leintuch, zwei Kerzen und ein kleines Behältnis mit Öl. Er leckte die Geleereste vom Filetiermesser und legte es in die Kiste
Weitere Kostenlose Bücher