Maggie O´Dell 01 - Das Boese
würde alles zusammenfügen und daraus ein Täterprofil erstellen. So ging sie immer vor. Manchmal konnte sie einen Täter bis hin zu Größe, Haarfarbe und - wie in einem Fall - der Marke seines After Shave exakt beschreiben. Diesmal war es jedoch schwierig. Zum Teil, weil der Hauptverdächtige bereits hingerichtet worden war, und zum Teil, weil es immer schwer war, sich in das kranke Hirn eines widerlichen Kindsmörders hineinzufinden.
Sie nahm ihre silberne Kette mit dem Anhänger von der Ecke des Schreibtisches. Das Kreuz ähnelte dem von Danny Alverez. Dieses hatte sie zur Heiligen Kommunion von ihrem Vater bekommen.
„Solange du das trägst, wird Gott dich beschützen“ , hatte er ihr gesagt. Doch sein eigener, identischer Anhänger hatte ihn nicht beschützt. Sie fragte sich, ob er in jener Nacht im Vertrauen auf Gott in das brennende Gebäude gegangen war?
Bis vor einem Monat hatte sie die Kette getragen, mehr aus Gewohnheit und zur Erinnerung an ihren Vater als aus Religiosität. Die war ihr an jenem Tag abhanden gekommen, als sie zusehen musste, wie der Sarg ihres Vaters in die kalte, harte Erde hinabgelassen wurde. Sie war zwölf gewesen, und alle Katechismusstunden hatten ihr nicht erklären können, warum Gott ihr den Vater nahm.
Sie hatte den Katholizismus beiseite geschoben, bis sie vor acht Jahren die Arbeit im forensischen Labor in Quantico aufnahm. Plötzlich hatten die grausigen Zeichnungen ihres Baltimore-Katechismus von Dämonen mit Hörnern und roten Augen einen Sinn ergeben.
Das Böse gab es wirklich. Sie hatte es in den Augen von Mördern gesehen. Sie hatte es in den Augen von Albert Stucky gesehen. Ironischerweise war es dieses Böse, das ihr Gott wieder näher brachte. Und es war Albert Stucky, der für sie die Frage aufwarf, ob Gott sich nichts mehr aus den Menschen machte. In der Nacht, als sie zusehen musste, wie Stucky zwei Frauen hinmetzelte, war sie heimgekehrt und hatte den Anhänger vom Hals genommen. Obwohl sie sich nicht überwinden konnte, ihn wieder anzulegen, trug sie ihn doch immer bei sich.
Sie ließ die Finger über die glatte Oberfläche des Kreuzes gleiten und fragte sich, was Danny Alverez gefühlt hatte. Was war in ihm vorgegangen, als der wahnsinnige Täter ihm das Kreuz abriss, das er vielleicht für seinen letzten Schutz gehalten hatte? Wie ihr Vater hatte Danny Alverez seine Hoffnung in einen albernen Metallgegenstand gesetzt.
Sie umschloss den Anhänger fest, holte aus und wollte ihn quer durch den Raum werfen, als ein leises Klopfen an der Tür sie davon abhielt. Das Klopfen war kaum hörbar gewesen. Instinktiv zog sie ihre 38er Smith und Wesson aus dem Holster und stand auf. Barfuß ging sie geräuschlos zur Tür und fühlte sich, nur in Nachthemd und Slip, sehr angreifbar. Sie nahm den Revolver fest in die Hand und hoffte, er mache ihr Mut. Durch den Spion sah sie Sheriff Morrelli auf der anderen Seite stehen, und die Anspannung fiel von ihr ab. Sie öffnete die Tür einen Spalt, um mit ihm zu sprechen.
„Was ist los, Sheriff?“
„Tut mir Leid. Ich hatte versucht, Sie anzurufen, aber der Nachtportier hat mindestens eine Stunde telefoniert.“
Er wirkte erschöpft. Die Augen waren geschwollen und gerötet, das kurze Haar stand in alle Richtungen ab, und er war unrasiert. Das Hemd hing über der Jeans und lugte unter der Jeansjacke hervor. Sie merkte, dass die oberen Knöpfe fehlten. Der verdrehte Kragen stand offen und gab ein paar lockige schwarze Brusthaare frei. Ungehalten, weil es ihr auffiel, wandte sie den Blick ab.
„Ist etwas passiert?“ fragte sie.
„Es wird schon wieder ein Junge vermisst“ , erklärte er und schluckte trocken, als falle ihm jedes Wort schwer.
„Unmöglich“ , erwiderte sie automatisch, erkannte jedoch sofort, dass es durchaus möglich war. Albert Stucky hatte sein viertes Opfer eine Stunde, nachdem das dritte entdeckt worden war, genommen. Die schöne blonde Studentin war zerstückelt worden. Teile von ihr hatte er in Mitnahmebehältern in den Abfallcontainer hinter dem Restaurant geworfen, in dem er früher am Abend gespeist hatte.
„Ich habe veranlasst, dass meine Männer in der Gegend von Haus zu Haus gehen und Straßen, Parks und Felder absuchen.“ Er rieb sich mit einer Hand über das müde Gesicht und kratzte das stoppelige Kinn. Seine Augen waren wie blaue Bergseen. „Der Junge ging vom Fußballspiel nach Hause. Er hatte nur fünf Blocks zu gehen.“ Er wich Maggies Blick aus und sah den Flur hinunter,
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