Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
schweben.
Sie verharrte unschlüssig mit der Hand über den Zahlen. Woran lag es, dass diese Frau ihr immer noch das Gefühl vermittelte, eine unreife und ängstliche Zwölfjährige zu sein? Dabei war sie mit zwölf schon erwachsener gewesen, als ihre Mutter es je sein würde.
Das Telefon klingelte sechs, sieben Mal, und Maggie wollte schon auflegen, als eine leise, raue Stimme etwas Unverständliches in den Hörer brummte.
„Mom? Hier ist Maggie“, sagte sie anstelle einer Begrüßung.
„Hallo, Maggiemaus. Ich wollte dich gerade anrufen.“
Maggie verzog das Gesicht, als ihre Mutter sie mit dem Spitznamen anredete, den der Vater ihr gegeben hatte. Maggiemaus nannte die Mutter sie nur, wenn sie betrunken war. Am liebsten hätte sie einfach aufgehängt, doch ohne die neue Telefonnummer konnte ihre Mutter sie nicht erreichen. Andererseits erinnerte sie sich im nüchternen Zustand vielleicht gar nicht mehr an das Gespräch.
„Du hättest mich nicht erreicht. Ich bin umgezogen.“
„Maggiemaus, sag bitte deinem Vater, dass er aufhören soll, mich anzurufen.“
Maggie fühlte sich schwach und lehnte sich gegen den Küchentresen. „Wovon sprichst du, Mom?“
„Dein Vater ruft mich dauernd an, sagt irgendwelches Zeugs und legt einfach auf.“
Der Tresen reichte nicht als Stütze, Maggie schaffte es zum Hocker und setzte sich. Plötzliche Übelkeit und ein Frösteln überraschten und ärgerten sie. Sie legte sich die flache Hand auf den Magen, um ihn zu beruhigen.
„Mom, Dad ist tot. Seit über zwanzig Jahren.“ Sie griff nach einem Küchentuch und fragte sich, ob ihre Mutter als Folge des Alkoholismus dement wurde.
„Das weiß ich doch, Süßes.“ Ihre Mutter kicherte.
Maggie konnte sich nicht erinnern, ihre Mutter jemals kichern gehört zu haben. War das nur ein kranker Jux? Sie wartete mit geschlossenen Augen und wusste nicht, wie sie diese Unterhaltung fortsetzen sollte.
„Reverend Everett sagt, das kommt daher, weil dein Vater mir immer noch was mitteilen will. Aber zum Teufel, er hängt immer auf. Oh, ich sollte nicht fluchen.“ Sie kicherte wieder.
„Mom, wer ist Reverend Everett?“
„Reverend Joseph Everett. Ich habe dir von ihm erzählt, Maggiemaus.“
„Nein, du hast mir nichts von ihm erzählt.“
„Sicher habe ich das. Oh, Emily und Steven sind da. Ich muss Schluss machen.“
„Mom, warte. Mom ...!“ Doch es war zu spät. Ihre Mutter hatte bereits aufgelegt.
Maggie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und widerstand dem Drang, daran zu reißen. Es war erst eine Woche her ... okay, vielleicht zwei, seit ihrem letzten Telefonat. Wieso klang sie plötzlich so verwirrt? Sie dachte daran, zurückzurufen, da sie ihr nichtmal die neue Telefonnummer gegeben hatte. Andererseits war ihre Mutter gar nicht fähig, sie zu behalten. Vielleicht konnten sich Emily und Steven oder Reverend Everett - wer immer diese Leute sein mochten - um sie kümmern. Sie war viel zu lange für die Mutter verantwortlich gewesen. Jetzt war mal jemand anders an der Reihe.
Dass ihre Mutter wieder trank, überraschte sie nicht und hatte sogar einen Vorteil. Wenn sie trank, beging sie keinen Selbstmordversuch. Dass sie allerdings glaubte, mit ihrem toten Dad zu reden, beunruhigte Maggie ziemlich. Und wieder schmerzte die Erinnerung, dass der einzige Mensch, der sie bedingungslos geliebt hatte, seit über zwanzig Jahren tot war.
Sie zog an ihrer Halskette und holte den Anhänger aus dem Shirtausschnitt. Ihr Vater hatte ihr das silberne Kreuz zur heiligen Kommunion geschenkt und behauptet, es bewahre sie vor dem Bösen. Sein eigenes identisches Kreuz hatte ihn nicht geschützt, als er in das brennende Gebäude gelaufen war.
Seither hatte sie genügend Grässliches gesehen, um zu wissen, dass auch ein Panzer aus Silberkreuzen sie nicht schützen könnte. Doch sie trug das Kreuz als Erinnerung an ihren mutigen Vater. Der Anhänger fühlte sich zwischen ihren Brüsten oft so hart und kalt an wie eine Messerklinge. Was sie erinnerte, dass die Trennlinie zwischen Gut und Böse nur sehr fein war.
In den letzten neun Jahren hatte sie viel über das Böse im Menschen gelernt und Zerstörungswut erlebt, die warme, atmende Menschen als seelenlose Hüllen zurückließ. Doch sie war ausgebildet, Gewalt und Zerstörung zu bekämpfen, das Böse zu beherrschen und auszumerzen. Dazu musste sie den Tätern folgen und sich in ihr Leben und Denken einfühlen. War es möglich, dass irgendwann unbemerkt etwas von der Denkweise
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