Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
warne nur vor der Annahme, erst Geisteskrankheit befähige sie zu ihren Taten. Sie töten bewusst und absichtlich. Sie sind Meister der Manipulation. Ihnen geht es darum, ihre Opfer zu beherrschen. Und gewöhnlich bekommen sie ihre Anweisungen nicht von einem dreitausend Jahre alten Dämon, der in einem schwarzen Labrador haust. Wenn sie nur verrückt wären, könnten sie ihre ausgeklügelten Morde nicht immer wieder begehen, die Methoden perfektionieren und sich Monate, ja sogar Jahre der Festnahme entziehen. Es ist wichtig, sie nicht als Geistesgestörte einzustufen, sondern als Menschen, die bewusst Böses tun.“
Sie musste das Thema wechseln, ehe sie sich zu einer Predigt hinreißen ließ, dass jeder Mensch eine Schattenseite hatte, die ihn zu Bösem befähigte. Dabei kam stets die Frage auf, warum manche Menschen dieser dunklen Seite ihres Wesens nachgaben und anderenicht. Maggie war der Antwort auch nach Jahren der Beschäftigung mit diesem Thema nicht einen Schritt näher gekommen.
„Was ist mit den Motiven?“ fragte sie stattdessen. „Wie lauten die Stereotypen über Motive?“
„Sex“, sagte ein junger Mann laut von hinten und genoss die Aufmerksamkeit und das Gelächter, das dieses eine Wort hervorrief. „Ist für die meisten Serienkiller das Töten nicht sexuell befriedigend wie bei Vergewaltigern?“
„Moment mal“, wandte die einzige Frau ein. „Bei Vergewaltigungen geht es nicht um Sex.“
„Das ist leider nicht ganz richtig“, widersprach Maggie. „Bei Vergewaltigungen geht es sehr wohl um Sex.“
Sofort gab es einige Seufzer und missfallendes Kopfschütteln, als hätten sie diesen Einwand von einer Frau erwartet.
„Bei der Vergewaltigung geht es sehr wohl um Sex“, wiederholte sie, die allgemeine Skepsis ignorierend. „Das unterscheidet sie von anderen Gewalttaten. Was nicht bedeutet, dass es dem Vergewaltiger nur um sexuelle Befriedigung geht, vielmehr benutzt er Sex als Waffe. Deshalb ist die Behauptung falsch, Vergewaltigung habe nichts mit Sex zu tun. Sex wird als Waffe eingesetzt.“
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Vergewaltiger und Serienkiller benutzen Sex und Gewalt auf dieselbe Art. Beides sind mächtige Waffen, das Opfer zu erniedrigen und zu beherrschen. Manche Serienkiller beginnen sogar als Serienvergewaltiger. Irgendwann beschließen sie, einen Schritt weiter zu gehen, um ihre Befriedigung zu erhalten. Manchmal gehen sie stufenweise vor, beginnen mit Folter und wechseln zu Strangulierung und Erstechen. Manchmal genügt ihnen auch das noch nicht, und sie vollziehen bestimmte Rituale an der Leiche. Dann erlebt man Fälle wie beim Rattenfänger, der seine Opfer zerstückelte, kochte und an andereGefangene verfütterte.“ Sie sah in angewiderte Mienen, ihre Skepsis war einer morbiden Neugier gewichen.
„In Albert Stuckys Fall“, fuhr sie fort, „war es so, dass er mit Folterungen experimentierte, um seine Opfer schreien und flehen zu hören.“
Sie sagte das ruhig und gelassen, spürte jedoch, wie sie sich innerlich anspannte. Ein Reflex, um jederzeit fluchtbereit zu sein, wenn sie an Stucky nur dachte.
„Es gibt auch heilige Rituale“, sagte sie, um sich von Stucky abzulenken. „Letzten Herbst verfolgten wir in Nebraska einen Serienkiller, der seinen jungen Opfern die letzte Ölung verabreichte, nachdem er sie stranguliert und aufgeschlitzt hatte.“
„Moment mal“, unterbrach Detective Ford sie. „Sie sind die Profilerin, die an dem Fall der toten Jungen gearbeitet hat?“
Die simple Beschreibung ließ Maggie innerlich zusammenzucken. „Ja, das war ich.“
„Morrelli hat uns gerade gestern Abend von dem Fall erzählt.“
„Sheriff Nick Morrelli?“ Ein freudiger Schreck durchfuhr sie.
„Ja, wir waren gestern Abend zum Spareribs-Essen aus. Aber er ist nicht mehr Sheriff. Er hat die Marke gegen Anzug und Krawatte eingetauscht. Er arbeitet jetzt im Büro des Distrikt-Staatsan-waltes in Boston.“
Maggie ging wieder nach vorn und hoffte, die Entfernung vom Publikum verberge ihre Verwirrung. Vor fünf Monaten war der attraktive Kleinstadtsheriff vom Tag ihrer Ankunft in Platte City, Nebraska, ein Stachel in ihrem Fleisch gewesen. Genau eine Woche lang hatten sie einen Killer gejagt und dabei eine Intimität entwickelt, dass ihr bei dem bloßen Gedanken daran heiß wurde. Die Kursteilnehmer blickten sie abwartend an. Wie schaffte Nick Morrelli es, ihre Gedankengänge durcheinander zu wirbeln, nur weil er in derselben Stadt war?
20.
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