Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
das Privatleben seines Chefs.
Er hatte einen Ehering bemerkt, doch Cunningham schien in Quantico zu leben. Er verlegte nie Termine, weil Fußballspiele der Kinder oder Schulaufführungen oder ein Besuch der Kinder im College anstanden. Bisher hatte er alle Termine gehalten. Nein, Tully wusste nichts über den ruhigen, leise sprechenden Mann, der zu den Respektspersonen beim FBI gehörte. Doch der Preis, um das zu werden, war wohl hoch.
„Verzeihen Sie, dass ich Sie warten ließ“, sagte Cunningham, eilte herein, zog sein Jackett aus und hängte es über die Sessellehne, ehe er sich setzte. „Was haben Sie herausgefunden?“
Dieses forsche Direktaufden-Punkt-Kommen hatte Tullyanfänglich irritiert, da er die verbindlichere Art des Mittleren Westens gewöhnt war. Inzwischen war ihm die Direktheit sehr lieb, da sie ihn des Zwangs zu belangloser Plauderei enthob. Allerdings verhinderte das auch, sich privat auszutauschen.
„Ich habe soeben die Akten erhalten, die uns die Polizei von Kansas City gefaxt hat.“
Er holte eine Zusammenfassung heraus, prüfte, ob es die richtige war, und reichte sie Cunningham. Der setzte seine Brille auf.
Tully fuhr fort: „Die ersten Autopsieberichte nennen die durchschnittene Kehle als Todesursache. Keine Verteidigungswunden oder andere Verletzungen. Es gab einen Einschnitt in der rechten Seite des Opfers. Die rechte Niere wurde entfernt.“
„Hat man das Organ gefunden?“
„Nein, noch nicht. Aber die Polizisten vor Ort haben nicht gleich danach gesucht. Vielleicht wurde sie gefunden, jemand wusste nicht, was es war, und hat sie weggeworfen.“
Tully wartete geduldig und beobachtete seinen Boss, während der las. Cunningham legte den Bericht auf den Tisch, lehnte sich zurück und rieb sich mit einer Hand über das Kinn.
„Wie sehen Sie die Sache, Agent Tully?“
„Das Timing stimmt nicht. Es ist viel zu früh nach dem Tod der Pizzalieferantin. Und es ist viel zu weit weg, völlig außerhalb seines Territoriums. Es gab wieder einen Fingerabdruck, einen Daumen. Und wieder sah es so aus, als sei er absichtlich hinterlassen worden - an einem Schirm, der dem Opfer gehörte. Die Fingerabdrücke des Opfers haben wir nicht darauf gefunden. Die waren eindeutig abgewischt, ehe der Daumenabdruck gemacht wurde. Aber er passt auch diesmal nicht zu Stucky.“
Cunningham blickte mit gefurchter Stirn und leicht verengten Augen auf den Bericht und klopfte sich mit dem Zeigefinger an die Lippen. Tully kam es so vor, als seien die Linien in seinem Gesichtheute deutlicher ausgeprägt und das Grau im Haar mehr geworden.
„Ist es nun Stucky oder nicht?“
„Der Modus Operandi gleicht dem von Stucky. Es gab nicht genügend Berichte in den Medien, einen Nachahmungstäter zu motivieren, und es blieb auch nicht genügend Zeit dazu. Der Fingerabdruck könnte jemand gehören, der zufällig am Fundort war. Ein Kellner hat die Ermordete entdeckt. Es gibt Spekulationen, dass der Fundort kontaminiert wurde. Kansas City faxt eine Kopie vom Abdruck zu den Jungs vom CJIS in Clarksburg. Dann sehen wir, ob er mit dem unidentifizierten Abdruck von Newburgh Heights übereinstimmt. Es kann gut sein, dass er von einer Privatperson stammt, die zufällig an den Fundort kam, nachdem alles abgewischt worden war.“
„Okay, gehen wir mal davon aus. Was ist, wenn es Stucky war?“
Tully wusste genau, worauf Cunningham hinauswollte, aber der wollte es offenbar ausgesprochen hören, um das Offensichtliche bestätigt zu bekommen.
„Falls es Stucky war, ist er O’Dell nach Kansas City gefolgt. Er versucht sie wahrscheinlich wieder in diese Sache hineinzuziehen.“
Cunningham sah auf seine Armbanduhr. „Sie müsste jetzt auf dem Rückweg sein.“
„Ich habe das überprüft, Sir. Ich wollte sie vom Flughafen abholen. Sie hat den Flug geändert, sie kommt mit einer späteren Maschine.“
Cunningham seufzte kopfschüttelnd, griff nach dem Telefon und gab einige Zahlen ein.
„Anita, haben Sie die Telefonnummer von Spezialagentin Margaret O’Dell im Hotel in Kansas City?“ Er lehnte sich zurück und wartete.
Tully stellte sich die methodische Anita vor, wie sie rasch ihre Notizen durchging. Cunningham hatte die Sekretärin von seinem Vorgänger übernommen und verließ sich in wichtigen Dingen auf ihre Erfahrung und Sachkenntnis. Anita war vermutlich noch gewissenhafter als ihr Boss, falls das überhaupt möglich war.
„Gut“, sagte Cunningham ins Telefon. „Würden Sie sich bitte mit ihr in
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