Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
Bösen . Freuds Traumdeutungen und eine, wie Maggie wusste, seltene Erstausgabe von Alice im Wunderland . Vor allem das letzte Buch passte bestens zu Psychologie-Professor James Kernan, der Vergleiche mit dem verrückten Hutmacher heraufbeschwor.
Auf der Mahagonikommode an der gegenüberliegenden Seite befanden sich spitze alte Instrumente in interessanten Formen. Chirurgenwerkzeug, mit dem einst Lobotomien durchgeführt wurden. An der Wand hinter dem Mahagonischreibtisch hingen die passenden Schwarzweißfotos der Eingriffe. Ein weiteres gleichermaßen beunruhigendes Foto zeigte eine junge Frau unter Schocktherapie. Ihr leerer Blick und die resignierte Haltung unter der Metallapparatur hatten Maggie immer eher an eine Exekution denken lassen als an eine medizinische Behandlung. Manchmal verstand sie nicht, wie sie einem Berufsstand angehören konnte,der unter der Maßgabe, Krankheiten der Seele zu heilen, derart brutal vorgegangen war.
Kernan hingegen liebte diese Auswüchse. Sein Büro war exakt der Ausdruck des Wesens dieses sonderbaren kleinen Mannes, der berüchtigt war für seine groben Scherze über „Verrückte“ und seine ureigenste, an seinen Studenten perfektionierte Version der Schocktherapie.
Er liebte psychologische Spielchen, lockte sein Gegenüber in die Falle und trickste jeden ohne Vorwarnung aus. Eben noch bombardierte er im Tempo von Maschinengewehrsalven ein unvorbereitetes Erstsemester mit Fragen, ohne Zeit für Antworten zu geben, gleich danach stand er still in der Zimmerecke, Gesicht zur Wand. Bald darauf sprang er auf einen Schreibtisch, spulte seine Lektion ab, während er von einem Tisch zum nächsten balancierte und sein kleiner, untersetzter, aber alternder Körper abzustürzen drohte. Sogar die älteren Semester wussten nie, was sie von ihrem seltsamen Professor erwarten sollten. Und ausgerechnet diesem Mann traute das FBI zu, über ihre psychische Stabilität zu befinden?
Maggie hörte das vertraute Stampf-Quietsch seiner Schritte vor der Bürotür. Instinktiv setzte sie sich gerade hin und hörte auf, sich umzuschauen. Schon die Schritte dieses Mannes verwandelten sie in ein inkompetentes Collegeküken.
Dr. Kernan betrat ungezwungen sein Büro und schlurfte zum Schreibtisch, ohne ihre Gegenwart zur Kenntnis zu nehmen. Er ließ sich in den Ledersessel fallen, dass es nur so knarrte. Maggie war nicht sicher, ob das Knarren ausschließlich vom Sessel stammte oder von alternden Gelenken.
Er begann in Stapeln von Papieren zu wühlen. Sie sah schweigend zu, die Hände im Schoß gefaltet. Kernan wirkte seit ihrer letzten Begegnung vor zehn Jahren zusammengeschrumpft. Damalswar er ihr schon uralt vorgekommen, doch jetzt waren seine Schultern eingesunken und die braun gefleckten Hände zittrig. Sein Haar, schlohweiß, wie sie es in Erinnerung hatte, war dünn und federig geworden, so dass weitere braune Flecken auf Stirn und Kopfhaut hervortraten. Weiße Haarbüschel sprossen ihm aus den Ohren.
Er schien schließlich zu finden, was er so verzweifelt gesucht hatte, mühte sich, die kleine Blechdose Mintbonbons zu öffnen, nahm zwei heraus, ohne Maggie etwas anzubieten, und schloss die Dose wieder.
„O’Dell, Margaret“, sagte er vor sich hin und nahm sie immer noch nicht zur Kenntnis.
Er wühlte wieder in dem Durcheinander. „Kurs von 1990.“ Er hielt inne und blätterte in einem Ordner. Maggie sah auf die Beschriftung, um zu sehen, ob er ihre Akte las, entdeckte aber nur das Etikett: „Vierundzwanzig der besten Internet-Pornoseiten.“
„Ich erinnere mich an eine Margaret O’Dell“, sagte er, ohne sie anzuschauen mit der Stimme eines senilen alten Mannes, der Selbstgespräche führt. „O’Dell, O’Dell, der Bauer bürstet Fell.“
Maggie rückte sich auf ihrem Stuhl zurecht und zwang sich, geduldig abzuwarten. Es hatte sich nichts geändert. Warum wunderte sie das? Er behandelte seine Patienten genauso wie seine Studenten? Er machte Wortspiele und reduzierte Namen und Persönlichkeiten auf Kinderreime. Alles Teil seiner Einschüchterungstaktik.
„Grundstudium in Medizin“, fuhr er fort und blätterte die Liste mit Pornoseiten durch. Ein paar Mal hielt er inne, schürzte die Lippen und machte „ts, ts, ts.“, bevor er sagte: „Sie saß in der linken hinteren Ecke des Raumes und notierte wenig. Gute Studentin. Stellte nur Fragen über kriminelles Verhalten und ererbte Charaktereigenschaften.“
Maggie verbarg ihre Überraschung. Diese Fakten konnte er zufällig
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