Magic Cottage
das nicht tun, und natürlich mußte ich meinen Kopf durch die Tür stecken, wenn ich nicht bis zum Morgen hier unten festsitzen wollte. Ich schob mich vorsichtig, aber unaufhaltsam auf den Durchgang zu, und unvermittelt war es wie eine dieser berühmten Hitchcock-Kamerafahrten — der Blickwinkel veränderte sich, je näher ich kam; immer mehr dessen war zu sehen, was jenseits des Durchgangs lag. Die Tischdecke, ein Einkaufsblock darauf, ein Pfefferstreuer, die Stuhlkante . . .
Mein eigenes langsames, bedächtiges Vorwärtspirschen verursachte mir Gänsehaut, und das Gefühl, daß dort jemand saß und darauf wartete, bis ich um die Ecke blickte - daß dort jemand lauerte und grinste und seinen schimmligen Tee nicht anrührte —, war beinahe überwältigend.
Deshalb brachte ich die letzten paar Schritte schnell hinter mich.
Sie war nicht da. Die alte Flora lag auf dem Dorffriedhof; sie saß nicht in Gramarye am Küchentisch. Gott sei Dank.
Ich lehnte mich an den Türrahmen und gab mir Mühe, ruhiger zu atmen. Sie war nicht da, wirklich nicht, aber diese Stimmung im Raum! Vielleicht ging meine Phantasie bereits wieder mit mir durch, aber ich war mir sicher, daß ich eine Präsenz spüren konnte, etwas in der Luft, das beinahe greifbar war. Der Geruch eines alten Menschen erfüllte den ganzen Raum — Sie wissen, was ich meine. Ein Geruch, ein wenig süßlich und muffig und gleichzeitig uralt. Irgendwo hatte ich einmal gelesen, daß bestimmte Parapsychologen behaupteten, Gespenster seien nichts anderes als die Überreste der Aura einer toten Person, und hier und jetzt hielt ich diese Theorie für durchaus auf dieses Haus anwendbar — Flora Chaldeans psychische Rückstände mochten tatsächlich die Atmosphäre hier durchdringen, ihre sik-kernde Lebenskraft die Möbel überziehen und sogar die Wände. Genau so fühlte es sich an: Sie war tot und fortgebracht, aber ein Teil ihrer Persönlichkeit war in Gramarye eingeschlossen und würde es bleiben, bis er irgendwann im Lauf der Zeit zu nichts verblaßte.
Ich schüttelte mich bei diesem Gedanken.
Ich kehrte an die Arbeitsplatte zurück, belegte sehr hastig mein Brot, nahm es in die Hand, das Glas Milch ebenfalls, und marschierte zur Treppe — und konnte es mir nicht verkneifen, im Vorbeigehen noch einmal zum Tisch hinüberzustarren. Ich hatte das Gefühl, nur die Hand ausstrecken zu müssen, wollte ich sie berühren — so stark war der Eindruck ihrer Anwesenheit. Es gehörte einige Überwindung dazu, das Licht da unten auszuschalten.
Ich ging die Treppe hinauf (wesentlich schneller, als ich sie heruntergekommen war) und ins runde Zimmer; das Flurlicht ließ ich brennen. Aber trotz meiner Unruhe knipste ich kein weiteres Licht an, und das aus einem einfachen Grund: um meine schlafende Lebensgefährtin nicht zu stören, nahm ich meinen Imbiß nicht im Schlafzimmer ein, sondern hier — aber ich wollte mir nicht noch einmal das Bild ansehen, jedenfalls nicht bei vollem Licht; nur für den Fall, daß diese lebenssprühenden Farben wieder ihre eigenartigen Tricks ausspielten. Das Flurlicht und die Helligkeit des Mondes, die durch die Fenster hereinflu-tete, genügten vollkommen. Ich konnte ausreichend sehen, aber es war dunkel genug, um gewisse Dinge nicht zu deutlich zu machen. Ich ließ mich auf das Sofa sinken und biß von meinem Schinkenbrot ab. Meine nackten Knie schimmerten bleich wie schmale Schädeldecken, das Milchglas balancierte ich mit einer Hand auf dem bedeckten Oberschenkel.
Während ich dort saß, dachte ich über Mycrofts Versicherung nach, er könne Midge dabei helfen, mit ihren toten Eltern in Verbindung zu treten, und über die Tatsache, daß sie darauf hereingefallen war, daß sie diesen gruseligen Kerl wirklich für eine Art Mystiker hielt, der imstande war, mit den Seelen der Verschiedenen zu sprechen (naja, vielleicht hätte ich die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod noch einigermaßen akzeptieren können - aber diese verrückte Behauptung, einen direkten Draht zu jener anderen Ebene zu haben, das ging zu weit). Aber um Midge tat es mir in der Seele weh, weil ein Teil von ihr noch immer so sehr um ihre Eltern trauerte.
Ihre Mutter war damals Mitte Fünfzig gewesen, und sie litt bereits seit Jahren an der Parkinsonschen Krankheit; Midge und deren Vater pflegten sie rührend, aber der Zerfall schritt unaufhaltsam fort. Medikamente wie L-Dopa zeigten bereits ernste Nebenwirkungen — die kaum mehr zu ertragen waren. Midge hat mir erzählt,
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