Magical
Lisette schluchzend auf dem Bett und ich wusste, dass es falsch war. Lisette war die Tochter meines Vaters, und jetzt waren beide ihre Eltern tot. Daddy hätte das niemals gewollt. Ich hätte mich mehr gegen Mutter zur Wehr setzen sollen, hätte sie aufhalten müssen. Doch ich unternahm nichts. Ich kam mir fies vor, fies, weil ich es geschehen ließ, weilLisette jetzt alles, was sie mir angetan hatte, heimgezahlt wurde.
Trotzdem machte ich meine Zimmertür zu und tat so, als würde ich lesen. Ich presste meine Faust auf das Loch in meinem Herzen, während ich Mutters Schritten lauschte und Lisettes Schluchzen, das kein Ende nehmen wollte. Es war schon nach Mitternacht, als schließlich Ruhe einkehrte. Ich hatte alles ganz genau gehört.
Am nächsten Tag machte ich vom Badezimmer aus die Tür zu Lisettes Zimmer auf. Es war leer. Auch Lisette war weg. Ich hatte nichts getan, um es zu verhindern. War ich deswegen so gemein wie meine Mutter? Oder war ich dadurch nur weniger dumm und naiv als das Mädchen, das so gern Lisettes Freundin gewesen wäre?
Zu meinem Geburtstag in der folgenden Woche schenkte mir Mutter Lisettes Auto. Ich erklärte ihr, dass ich es nicht brauchte, dass ich mit Warner überallhin fuhr. Sie sagte, dass ihr das gleichgültig wäre. Sie sagte auch, dass sie Lisettes Gesangs- und Tanzunterricht nicht mehr bezahlen würde, dass sie überhaupt nichts mehr bezahlen würde, wozu sie nicht von Gesetzes wegen gezwungen war. Lisette hatte nicht einmal mehr ein Handy. Wenn sie diese Dinge haben wolle, sagte Mutter, müsste sie sich einen Job besorgen.
»Wie kann ich arbeiten gehen, wenn ich kein Auto habe?«, fragte Lisette. »Wirst du mich hinfahren?«
Mutter zuckte mit den Schultern. »Nimm den Bus. So machen es die armen Leute.«
Es war nicht so, dass ich nicht verstand, weshalb Mutter Lisette so sehr hasste. Ich verstand es besser als jeder andere. Aber der Gedanke, meinen Hass auszuleben, war mir völlig fremd. Ich schluckte ihn hinunter.
Außerdem trug sie Lisette eine Menge Aufgaben auf – Putzen, Waschen, hinter uns herräumen. Sie feuerte die Putzfrau, jetzt, wo sie Lisette hatte. Ich fühlte mich so elend, dass ich anfing, extra Dinge zu übernehmen, meine eigene Wäsche machte und einmal ließ ich zwanzig Dollar auf ihrer Kommode liegen.
Sie schob sie unter meiner Tür durch. Sie wollte nichts von mir annehmen.
Wochen vergingen. Manchmal, in der Schule oder wenn ich meine Hausaufgaben machte, dachte ich über Daddy nach, dachte daran, mit ihm zu reden und alles wieder gutzumachen. Dann fiel mir ein, dass das nicht ging. Nie mehr. Das Gefühl höhlte mich innerlich aus, es fühlte sich an wie ein Loch im Zahn. Es war vorbei, alles war vorbei. Es würde nie mehr so werden, wie es einst gewesen war.
Ich konnte mich nicht einmal mehr auf die Schule konzentrieren. Alles, was ich wollte, war, bei Warner zu sein. Und doch hatte sich zwischen uns etwas verändert. Ich hatte das Gefühl, auch mit ihm nicht mehr reden zu können. Ich fühlte mich von allen Menschen abgeschnitten, als könnten sie mich nicht hören, selbst wenn ich schrie.
Eines Tages waren Mutter und ich gerade mit demAbendessen fertig. Wir waren dazu übergegangen, im Esszimmer zu essen, damit Lisette uns besser bedienen konnte. Ich hasste das. Lisette wusch unser Geschirr ab, als das Telefon klingelte.
»Ich gehe ran!«, sagte sie.
Ich war gerade auf dem Weg in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen, und bekam mit, wie Lisette ins Telefon flüsterte. Ich blieb stehen. »Hast du es ihr gesagt?«, fragte sie. »Na ja, du musst es ihr sagen.«
Pause. Dann sagte sie: »Also gut, wir sehen uns später. Aber wenn du es ihr bis morgen nicht gesagt hast, dann mache ich es.« Sie legte auf.
Als sie die Küche verlassen hatte, warf ich einen Blick auf die Anruferkennung, doch ich wusste es bereits. Es war Warner gewesen. Als ich versuchte, auf seinem Handy anzurufen, hob er nicht ab.
Ich ging hinaus und setzte mich in mein Baumhaus, sank tief in mich zusammen und erinnerte mich daran, wie es gewesen war, als ich ein kleines Mädchen war und Daddy dieses Haus gebaut hatte. Es war April gewesen und der Wind hatte um mich herum gepeitscht und mein Haar in Hunderte von Nadeln verwandelt, die mir ins Gesicht stachen.
Schon bald bog ein Wagen um die Ecke und rollte auf unsere Auffahrt zu. Er hielt auf der Straße unter einigen großen Bäumen. Eine schlanke weiße Gestalt tauchte aus unserem Haus auf und stürzte auf das Auto zu.
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