Magical
Bevor sie einsteigen konnte, kam eine männliche Gestalt um den Wagen herum und öffnete die Tür für sie. Es war ein silberner Civic. Der Junge und das Mädchen umarmten sich. Sie küssten sich.
Ich wandte mich ab und drückte mein Gesicht gegen die Baumhaustür wie an dem Tag, als Lisette angekommen war. Wie damals dachte ich, wenn ich einfach im Baumhaus bliebe, würde sich vielleicht nichts ändern.
Stundenlang saß ich dort. Was hätte ich auch anderes tun sollen?
˜ ˜ ˜
Wie normal kam Warner am nächsten Tag, um mich für die Schule abzuholen. Nur dass ich wusste, dass es überhaupt nicht normal war. Es regnete, und zwar die Art von peitschendem Regen, der typisch ist für Miami und sich anfühlt, als würde man von einem Lkw überfahren. Einem nassen Lkw. Ich rannte zu Warners Auto, bevor er aussteigen konnte, und fing an zu reden.
»Hey, was für ein Wetter, was? Der Regen hat die ganze Nacht auf das Dach getrommelt und mich wach gehalten. Und all diese Blitze! Irgendwann bin ich aufgestanden und habe gelesen.« Ich plapperte weiter, weil ich versuchte, das Unvermeidliche aufzuhalten. »Sogar Mutter ist aufgewacht, und die schläft normalerweise wie eine Tote. Sie macht sich Sorgen, dass der Pool überlaufen und das Haus überschwemmen könnte. Sie weiß nicht, wie sie das Wasser dort ablaufen lassen kann. Das hat sonst immer Daddy gemacht.«
Ich verstummte, als ich mich daran erinnerte. Dann zwang ich mich, weiterzureden.
»Aber ich glaube, bis es so weit ist, hat es aufgehört zu regnen, glaubst du nicht auch?«
Obgleich ich eine Frage gestellt hatte, hörte ich nicht lang genug auf zu reden, um Warner antworten zu lassen. Ich hatte das Gefühl, dass er mir das mit Lisette nicht sagen würde, wenn ich nur weiterredete, bis wir in der Schule ankamen. Dann würde er nicht mit mir Schluss machen.
»Also«, fuhr ich fort. »Mir gefällt dieses Buch, Die Bücherdiebin, das wir im Literaturunterricht gerade lesen, total gut. Ich habe schon mal vorgelesen und finde es echt toll. Mir gefällt, dass der Erzähler der Tod ist. Das schafft irgendwie eine neue Perspektive, finde ich. Ich meine …«
Ich war außer Atem und musste einen Augenblick Luft holen, nur eine Sekunde lang. In dem Moment, als ich verstummte, sagte Warner: »Emma, ich muss mit dir reden.«
Nein. Nein, bitte. Ich kann dich nicht auch noch verlieren. »Wir reden doch. Wir reden über Die Bücherdiebin. Was hältst du von dem Buch?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht damit angefangen, okay?«
»Nicht? Aber was ist, wenn wir einen Test schreiben? Ich könnte dir sagen …«
»Nein! Emma, hör auf. Das geht jetzt nicht. Ich mussmit dir über etwas anderes reden. Über uns. Emma, es muss sein, es funktioniert nicht. Wir müssen uns trennen.«
»Was?« Ich versuchte, überrascht auszusehen. Ich war überrascht, auch wenn ich es schon vorher gewusst hatte. Es war auch überraschend, oder? Lisette wollte ihn, aber nur, um mich zu kränken. Ich hatte bloß gedacht, dass Warner anders wäre.
»Du bist nicht die Person, für die ich dich gehalten habe, Emma, das nette Mädchen, in das ich glaubte, verliebt zu sein.«
»Was? Ich weiß, dass du dich hinter meinem Rücken mit Lisette triffst. Und jetzt geht es auf einmal um mich? Als wäre ich diejenige, die etwas verbrochen hat?«
»Wie kann es nicht um dich gehen, Emma, wenn ich weiß, wie fies du zu Lisette bist?«
»Wie fies ich zu ihr bin?« Der Regen trommelte mit der Wucht eines Presslufthammers gegen das Fenster, und bald würde ich da draußen sein und mich gegen diese Flut stemmen.
»Sie hat mir erzählt, was du und deine Mutter mit ihr gemacht habt, dass ihr sie aus ihrem Zimmer geworfen habt und sie wie eine Bedienstete behandelt.«
»Ich habe diese Dinge nicht getan.« Aber ich hatte sie auch nicht verhindert.
»Bitte. Du hast Lisette noch nicht einmal, bevor ihr Vater starb, wie eine Schwester behandelt. Deshalb hast du mir auch nie von ihr erzählt, hast uns einander nie vorgestellt.«
»Ich habe euch einander nicht vorgestellt, weil ich ganz genau wusste, was passieren würde, wenn ich es täte – und jetzt passiert es gerade. Sie hasst mich.«
»Kannst du ihr das verübeln?«
»Ja. Ich wollte, dass wir Freundinnen sind, dass wir Schwestern sind, aber sie … sie …« Ich starrte aus dem regennassen Fenster. Es spielte keine Rolle, was ich sagte oder dachte. Die einzige Wahrheit war Lisettes Wahrheit. »Sie nimmt mir alles weg, alles, was mir etwas
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