Magical
dürft auf keinen Fall denken, dass ich in irgendeiner Weise etwas mit dem Untergang dieser Schiffe zu tun hatte. Das war purer Zufall. Das berühmteste Schiff jedoch, auf dem ich je gefahren bin, war die R.M.S. Titanic.
Von ihr habt ihr bestimmt schon gehört, oder? Dann wisst ihr sicher, dass es Leute gab, die vorhersagten, dass dieses unsinkbare Schiff garantiert sinken würde. Tatsächlich gehörte auch ich zu diesen Leuten. Aber die Leute neigen dazu, mich zu ignorieren, und ich wollte vor allem die Kabinen sehen, bevor sie mit Wasser vollliefen, und die berühmten Passagiere, bevor … na ja, dito. Außerdem hatte ich den Fehler gemacht, an Weihnachten 1911 nach Irland zu reisen, von wo ich schon am elften April 1912 wegen so einer Lappalie wie einer Brownie-Revolte wieder davongejagt wurde (falls ihr es nicht wisst – Brownies sind kleine, irische Feen, nicht nur kleine amerikanische Pfadfinderinnen, und sie können sehr streitsüchtig sein). Alsowar es ein glücklicher Zufall, dass die Titanic gerade in Queenstown vor Anker lag, bevor sie ihre historische und verhängnisvolle Reise über den Ozean antrat. Ich verkleidete mich als junge Stewardess namens Bessie Livingston und nahm ihren Platz ein. Die echte Bessie Livingston hatte ich dazu überredet, in Irland an Land zu gehen, um einen Tag in den Pubs zu verbringen (dieser Glückspilz – auch wenn sie das selbst nicht fand, als sie erfuhr, dass das Schiff ohne sie abgelegt hatte!).
Bis zum Abend des vierzehnten April lief alles wie geschmiert. Aber vielleicht kehre ich jetzt besser wieder zu meiner Geschichte zurück und stelle euch meine Freundin Doria vor (kein Bezug zum oben genannten Schiff – der Name Doria bedeutet ›aus dem Meer‹ , und ihr werdet bald merken, dass das in diesem Fall Hand und Fuß hat). Sie erzählt ihre Geschichte besser selbst.
Ihr könnt sie euch anhören, während ich über Emma und Lisette nachdenke.
Die Geschichte von der Meerjungfrau, die besser alles so gelassen hätte, wie es war
Es gibt Leute, die glauben, dass es auf dem Meeresgrund nichts gäbe als Sand und Muscheln und endlose Dunkelheit. Aber das stimmt nicht. Auf dem Meeresgrund gibt es Blumen in Farben, die es nirgendwo sonst zu sehen gibt. Und darüber hinaus können diese Blumen sprechen. Wir wohnen in Schlössern, durch deren Fenster bunte Fische ein und aus schwimmen, und das größte dieser Schlösser gehört dem Meerkönig. Die Schlossmauern bestehen aus Korallen und haben ein Dach aus Muscheln, sie öffnen und schließen sich, um das Meervolk, das eingeladen ist, hereinzulassen.
Sicherlich habt ihr schon vom Meervolk gehört, den Wassermännern und Meerjungfrauen, Leuten mit Schwänzen oder Fischen mit Torsos, je nachdem, wie man es betrachtete. Sie waren für mich vollkommen normal, denn ich war eine von ihnen. In der Tat war ich die Tochter des eben erwähnten Meerkönigs. Ich wohnte in jenem schönen Schloss mit meinem Vater, meiner Großmutter und meinen Schwestern.
Und doch war es mein sehnlichster Wunsch, nahe am Ufer zu schwimmen, um zu entdecken, was es dort zu sehen gab.
Oh, ich hatte schon zuvor Menschen gesehen, vor allem Männer. Meine Schwester und ich lagen gern auf den Felsen und Eisbergen, bewunderten unsere Schwänze (die sehr schön grün und blau schimmerten und mit Austernschalen bedeckt waren) und sangen den vorbeifahrenden Schiffen unsere Gesänge zu, auf dass die Männer vielleicht unsere feinen Stimmen schätzen lernten. Manchmal schauten die Seeleute nach uns, und dann krachten ihre Schiffe gegen die Felsen und sanken. Normalerweise starben die Männer. Meine Schwester Mariel sagte, da könne man auch nichts machen. Trotzdem fühlte ich mich schrecklich und versuchte, nicht zu singen, wenn es ein Mensch hören konnte.
Aber ich war eine Meerjungfrau. Meerjungfrauen singen. Deswegen tröstete ich mich damit, dass die Leichen der toten Männer zu Futter für alle Meereswesen werden würden. Das war jedoch ein schwacher Trost, denn ich wusste, dass sie Familien hatten, die sie vermissten, Familien, die warten und sich wundern würden – vielleicht für immer.
Einmal sah ich einen Mann im Meer treiben. Er klammerte sich an den Schiffsmast und hing daran viele Stunden, noch lange, nachdem seine Kameraden untergegangen waren. Dann glitt er ins Wasser hinab und versuchte, ans Ufer zu paddeln. Ich wünschte mir sehnlichst, ihm helfenzu können, doch damals war ich erst dreizehn, und Kontakt zwischen Menschen und Meerjungfrauen war
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