Magie der Schatten 1 - Barshim und Cashi
entstand ein Spannungsfeld in dem kleinen Raum, dass sich die Härchen auf den Armen aufrichteten. Shorbo rang nach Luft. Seine Hand fuhr zur Kehle hinauf. Der Kehlkopf presste sich tief ein, obwohl ihn keiner berührte und der alte Mann war sich sicher, in diesem Augenblick trug Tamins Antlitz den Hauch eines Totenschädels. Bleich zeichneten sich die Knochen durch die plötzlich pergamentartig wirkende Haut. Gelb geschlitzt sprangen die Augen in sein Blickfeld und allein diese Veränderung sorgte dafür, dass Shorbo vor Entsetzen taumelte. Tamin besaß mehr Magie als der Kreisführer je geahnt hatte. Das bittersüße Lächeln wurde noch einen Hauch intensiver und damit auch der Zugriff auf Shorbos Kehle. Shorbos Stab fiel scheppernd zu Boden. Die alten Gravuren darauf leuchteten im Schein des Feuers, als der Magier mit einem röchelnden Laut in die Knie ging.
»Du wirst damit nicht durchkommen…«, presste er hervor, während die Zunge bereits in seinem Mund wie ein schwerer Fremdkörper lag.
»Versuche nicht«, antwortete Tamin, »jemanden um Hilfe zu rufen. Mein Bann, den ich um dein Haus legte, lässt keine Gedanken hinaus. Mach es dir nicht unnötig schwer … gib einfach auf.« Dabei winkte er abfällig mit der Hand.
»Niemals«, stieß Shorbo überraschend heftig hervor. Er war so verdammt blind gewesen. Die alte Geschichte schoss durch seinen Kopf. Er kannte ihn, den alten Tamin. Der damals treu seinem Lehrer diente und von jenem so bitterlich enttäuscht worden war. Und jetzt begriff Shorbo, was Tamin antrieb. Eine unerfüllte Aufgabe. Eine Aufgabe, die der junge Magier nicht benennen konnte, weil ihm die Erinnerung daran fehlte, aber es fraß sich durch sein Unterbewusstsein wie ein Geschwür. Und auf dem Weg, den diese Maden der Vergangenheit durch Tamins Körper zogen, hinterließen sie Angst, Wut und Zorn und damit einen unberechenbaren Magier, der versucht war, seinen Hunger nach Stille in sich zu löschen. Hunger nach Ruhe und Frieden. Und das zu jedem Preis!
»Ich darf nicht«, wimmerte der Kreisführer kaum hörbar. Seine linke Hand ruckte über den Holzboden, auf der Suche nach dem schwarzen Stab.
Tamin hob den Stuhl auf und setzte sich hin. Wie ein König thronte er über dem am Boden kriechenden Magier. »Was dürft ihr nicht?«
Irgendwie schaffte es der alte Mann sich an der Tischkante hoch zu zerren.
Nein er durfte nicht, er durfte nicht eingreifen. Er hatte bei seinem Leben geschworen, nie wieder in die Geschichte einzugreifen. Was geschah, wenn man es doch tat, welches Unheil man aus ihr gebar, das konnte man gerade an Tamin sehen.
Shorbo taumelte zurück und stieß gegen die Wand. Seine Augen verdrehten sich.
Seine dahinschwindenden Gedanken gehörten Cashimaé. Seinem Mädchen.
Seiner Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft der Alten Welt.
*
»HALLO!?«
Eine Stimme, die von draußen ertönte, durchbrach Tamins Konzentration. Als der Ausruf erneut klar und deutlich erklang, verzog der Magier verärgert das Gesicht über die Störung und ließ schließlich von Shorbo ab. »Du hast Glück, alter Mann, die Schatten wollen noch etwas auf dich warten« Er trat ganz dicht an Shorbo heran. Sein Atem streifte das Ohr des Kreisführers, als wäre er seine Geliebte, während die Worte über seine Lippen tropften wie süßes Gift. »Wage nicht, einen falschen Schritt zu setzen oder auch nur ein Wort hierüber zu verlieren. Ich werde dich beobachten, jede Bewegung, jeden Gedanken werde ich hören, der durch deinen alten Kopf wandert. Versuche auch nur mit dem kleinen Finger etwas gegen mich zu unternehmen, dann werde ich Cashimaé vernichten und du weißt, dass ich es kann, Kreisführer!« Tamin registrierte noch die zitternden Hände des Alten mit Genugtuung, ehe er sich umwandte und die Hütte verließ.
Shorbo suchte schwer mit beiden Händen Halt an der Wand und schaffte es nur mit Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Was ihn am meisten lähmte, war das pure Entsetzen über das Verhalten des Magiers. Wie konnte es sein, dass in dem Jungen eine solche Wut herrschte? Wie hatte er selbst so blind gegenüber Tamin sein können?
»Du hättest ihn damals vernichten sollen, mein Freund«, flüsterte er zu sich selbst. Nur sein Geist wusste, wen er damit ansprach »Denn die innere Stimme des Lehrers lässt den Schüler ohne Ziel zum Wahnsinnigen werden.« Er blickte wieder zur Tür. Was war zu tun? Ahnte der Magier etwas von seiner Vergangenheit? Oder war Tamin einfach nur besessen von
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