Magie der Schatten: Roman (German Edition)
über Elarides hinweg. Er schloss die Augen und spuckte Wasser aus. Unter ihm lief die Ankerkette entlang. Noch ein Zug. Er schwamm den letzten Meter und bekam ein Glied der Kette zu packen.
Beide Hände am kalten Eisen, zog er sich hoch. Dann konnte er auch mit den Füßen in die eisernen Glieder greifen. Er triefte vor Nässe, seine Haare klebten ihm am Kopf. Sein Herz schlug wild, und seine Arme schmerzten bei jeder Bewegung.
Warum tat er das hier eigentlich?
Dann gab es einen Ruck an der Kette, und er musste sich mit aller Gewalt festklammern, um nicht abzustürzen.
Nachdenken konnte er später.
Jeder Zentimeter war mühsam, und seine Arme brannten vor Anstrengung, seine Finger waren fast taub. Hinter ihm kletterte Brakas, genau so triefnass und keuchend wie er selbst. Er rief irgendetwas, aber die See rauschte, und ein weiterer Kanonendonner übertönte alles.
Elarides zog sich das letzte Stück hoch und packte die Reling. Er ächzte und stöhnte und zog sich mit Kräften, die er nicht mehr in sich vermutet hätte, nach oben.
Sie waren am Achterdeck, vor ihnen das Steuerrad, auf dem Deck lagen Taue, standen Fässer und Kisten. Es war keine Menschenseele in Sicht, nicht einmal in der Takelage über ihnen. Elarides plumpste aufs Deck. Das Holz unter ihm färbte sich dunkel vor Nässe. Hinter ihm quälte Brakas sich nach oben. Elarides packte ihn an beiden Armen, stemmte sich gegen die Reling und zerrte ihn hoch.
Keuchend und stöhnend stützten sie sich auf die Reling. »Noch einen Moment.« Brakas hob eine Hand. Über seine Finger liefen schmale Flammen. Das Wasser zischte und verdampfte in einer kleinen Wolke, aber auch die Flammen erstarben rasch wieder.
»Du musst erst wieder trocken werden«, sagte Elarides.
»Gleich.« Brakas starrte mit grimmiger Miene auf seine Finger.
Elarides ging einige Schritte. Neben der Kapitänskajüte führten Stiegen links und rechts auf das Hauptdeck hinunter.
Elarides ging zur rechten. Er war noch zwei Schritte entfernt, da tauchte ein Gesicht auf. Ein Mann kam die Stiege herauf. Er hatte kurzes, rabenschwarzes Haar und trug die lockere Kluft eines Seemanns. Das Gesicht …
Vicold!
Er wich zwei Schritte zurück. Über die andere Stiege kamen ebenfalls Männer hochgeklettert.
»Nein«, flüsterte Elarides.
»Bleibt ruhig. Euer Hinterhalt ist gescheitert.« Der Mann mit Vicolds Gesicht kam mit festen Schritten auf ihn zu.
Es war nicht Vicold. Nicht der, den er kannte. Nein, es war ein Traumbild wie alles hier. Nur für ihn. Es war der Schatten in den Wäldern von Weigrund, der ihn mit zwei langen Klingen verfolgt hatte.
***
Raigars Mutter lehnte an einem Baumstamm, ihr Atem ging hastig und unregelmäßig. Der Bolzen ragte noch immer aus ihrem Bauch. »Schon gut.« Schweißperlen glitzerten auf ihrem Gesicht. »Es ist nur eine Wunde. Kenne ich schon.« Sie lachte.
Und ich kenne diese Worte , dachte Raigar.
Mit zitternden Knien kehrte er zurück zur Böschung und spähte nach dem Schützen. Aber zu viele Bewegungen von zu vielen Männern liefen dort unten ineinander, als dass er einzelne Bewaffnungen hätte ausmachen können.
Es war sinnlos. Er würde nicht herausfinden, wer geschossen hatte, und es machte auch keinen Unterschied, von welchem Piraten der Bolzen stammte. Nicht ein Stück hätte es geändert, wenn er es gewusst hätte. Er drehte sich wieder um.
Seine Mutter hatte die Hände um den Bolzen gelegt. Mit einem Schrei zog sie ihn sich aus dem Unterleib. »Teufelsding!«
Raigar setzte sich neben sie. »Das hättest du nicht tun sollen.«
»Blödsinn. Klar, es blutet ein bisschen, aber das hört auch wieder auf. Ganz einfach.« Ihr verzerrtes Gesicht verriet sie. Sie verdeckte die Wunde mit dem Leder ihrer Rüstung, aber das Rot sickerte durch. »Ich brauche nur eine kleine Pause.«
»Ich bleibe hier, bis es dir wieder besser geht«, sagte er und setzte sich auf die andere Seite des Baumstamms.
Er wusste doch, wie es enden würde. Wieso konnte er nicht einfach abwarten und alles geschehen lassen? Oder laut loslachen und allen Menschen, die er hier traf, ins Gesicht sagen, dass sie nur Trugbilder, Erinnerungen und Illusionen waren, die nur wegen ihm existierten?
Mutter, du bist nur eine Illusion. Du stirbst hier nicht. Weil du in dieser Traumwelt nie gelebt hast. Es interessiert mich einen Dreck, was aus dir wird.
Nein. Obwohl das Worte gewesen wären, die sie bestimmt gerne gehört hätte, lieber jedenfalls als die Beteuerungen, die noch kommen
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