Magie der Schatten: Roman (German Edition)
anzuzapfen. Sie waren vom Kristall aufgenommen worden, und sie zu befreien, bedeutete ihr Ende. Der Kristall hatte ihren Körper vor dem Altern bewahrt und mit Magie gespeist. Sie hatten die Jahre in einem ewigen Traum verbracht, doch wenn man ihnen den Kristall nahm, dann kamen die Jahre zurück und holten sich, was sie sich nicht hatten nehmen dürfen.
Einem der Zauberer war nach Minuten das Herz stehengeblieben, ein anderer war an der Luft erstickt, die seine Lungen nicht mehr gewohnt waren, ein weiterer schlicht an Altersschwäche gestorben. Und diese Männer waren nur einige Jahre im Kristall gewesen, Wohingegen Lenia eine Unzahl von ihnen hier verbracht hatte. Was würde geschehen, wenn man sie herausholte?
Tatsächlich hatte auch er in einem langen, sehr langen Traum gelebt, und Lenia hatte ihn daraus wecken wollen. Jetzt würde er es bei ihr tun.
Er sah zu, wie die Umrisse ihres Körpers klarer wurden.
Bald führte ein eigener Tunnel in den gewaltigen Kristall hinein. Nur noch Zentimeter trennten Nairod von Lenia. Die Männer rückten dem Material jetzt mit Hämmern und dünnen Meißeln zu Leibe.
Nairod stand erstarrt daneben. Sie schwebte vor ihm, so, wie sie in den letzten Augenblicken gewesen war, bevor Sax ihm den Verstand gestohlen hatte: Fassungslosigkeit auf dem Gesicht, der Körper mitten in der Bewegung erstarrt.
Die feinen Risse in der Kristalloberfläche fraßen sich immer weiter. Die Männer arbeiteten gleichzeitig an vier Stellen. Der letzte Hammerstoß kam, und krachend barst der Kristall an allen Stellen zugleich. Die Minenarbeiter warfen sich zu Boden, nur Nairod blieb stehen. Kristallsplitter schnitten ihm in Hände, Gesicht und Arme. Etwas Weiches kam ihm entgegen, und er fing es auf. Als der Kristallregen endete, öffnete er die Augen. Ein hustendes Mädchen lag in seinen Armen. Ungläubig starrten die Männer sie an. Keiner sprach ein Wort, auch Nairod blieb stumm. Lenias Haar kitzelte ihn an den Armen. Der Schmerz von den blutenden Wunden, die die Kristallsplitter gerissen hatten, war irgendwo, aber zu weit weg.
Er drehte sich um und ging vorbei an den verdutzten Männern. »Komm«, murmelte er, während er über die Steine der eingestürzten Mine nach draußen stieg.
Erst auf dem überwucherten Dorfweg setzte er Lenia ab. Sie schaute sich wie schlaftrunken um und drehte sich nach allen Seiten. »Was ist hier geschehen? Ich weiß nur noch …« Sie schüttelte verwirrt den Kopf. Ihr Haar tanzte ihr um die Schultern. Die Uniformjacke war von Kristallsplittern zerrissen worden. Ihre dünnen, feinen Hände ragten aus den aufgeschlitzten Ärmeln heraus. Nairod erkannte ihr Gesicht wieder: die kleine Nase und die immer etwas geröteten Wangen. So, wie er sie in den Erinnerungen gesehen hatte, die Sax ihm hatte nehmen wollen.
Tränen traten ihm in die Augen.
Er packte Lenia an den Schultern und drehte sie zu sich. Dann drückte er sie an sich. »Es ist ein Jahrhundert vergangen, und wir haben … nur noch Minuten, glaube ich.«
Lenia zitterte unter der Berührung. Sie wirkte desorientiert. Er spürte ihren Herzschlag, und für die Dauer eines Augenblicks packte ihn Furcht. Große Augen sahen ihn lange an. »Ich … ich verstehe.« Das Wichtigste verstand sie, und das schmerzte.
»Es tut mir so leid. Ich war zu schwach.« Seine Stimme brach, und Tränen flossen ihm die Wangen hinab. Lenia schloss die Augen, legte die Arme um ihn und schmiegte ihren Kopf an seine Brust. »Du bist mutig«, sagte sie. »Danke.« Dann blickte sie hoch zu ihm. »Aber eigentlich bist du ein Feigling.«
Er zitterte. Ja, das war er.
Er beugte sich hinunter zu ihr, bis ihre Gesichter nur noch eine Handbreit voneinander entfernt waren. Ihr Atem strich über seinen Hals, und die Wärme ihres Körpers war nah an seinem.
»Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich noch habe«, flüsterte sie.
Er nickte und legte unendlich vorsichtig seine Lippen auf ihre. Sie waren warm und feucht. Lenia stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte sich an ihn. Er hielt sie fest, so fest, wie er konnte. Ihre Augen glitzerten. Sie zog ihren Mund zurück. »Augen zu.«
Er schloss seine Augen.
Und öffnete sie erst wieder, als Lenia fort war.
***
Der Preis für hundert Jahre. Wieso hatte nicht auch er ihn zahlen müssen?
Taumelnd kehrte er zurück zur Grabungsstätte. Sein Herz schlug in einem fremden Rhythmus, und Lenias Berührungen wirkten auf seiner Haut nach.
Aus seinen Fäusten rieselte Asche.
Der Vorarbeiter kam ihm
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