Magie der Sehnsucht - Roman
Position und seiner allgemein bekannten Grausamkeit war ich ein Außenseiter in meiner Gruppe. Während sich die anderen Jungs zusammenschlossen, um zu stehlen, blieb ich mir selbst überlassen. Eines Tages wurde Iason erwischt, als er einen Brotlaib stahl. Dafür sollte er bestraft werden. Aber ich trat vor und nahm die Schuld auf mich.«
»Warum?«
»Er war bereits von einer ritualen Prügelstrafe geschwächt. Deshalb dachte ich, er würde keine weiteren Schläge überleben.«
»Wieso war er vorher verprügelt worden?«
»So begannen alle unsere Tage. Sobald man uns aus den Betten gezerrt hatte, wurden wir geschlagen.«
»Und obwohl du selber verletzt warst, hast du dich an seiner Stelle bestrafen lassen?«
»Da ich von einer Göttin geboren wurde, habe ich etwas mehr verkraftet.«
Diesmal konnte sie nicht widerstehen, strich über seinen Arm, und er wich ihr nicht aus. Stattdessen drückte er ihre Hand.
»Von diesem Tag an nannte Iason mich seinen Bruder und bewog die meisten Jungs, mich zu akzeptieren. Wenn
meine Mutter und mein Vater auch andere Söhne hatten – bis dahin gab es in meinem Leben keinen Bruder.«
»Was geschah danach?«, fragte Grace lächelnd.
»Wir beschlossen mit vereinten Kräften zu ergattern, was wir zum Überleben brauchten. Während ich Nahrungsmittel stahl, lenkte Iason etwaige Beobachter ab. Und wenn wir geschnappt wurden, ließ immer nur ich die Strafe über mich ergehen.«
Jetzt fragte Grace nicht mehr nach seinen Beweggründen. Die kannte sie. Er hatte seinen Bruder beschützt.
»Allmählich merkte ich«, fuhr Julian fort, »dass sein Vater manchmal ins Dorf schlich, wo unsere Kaserne stand, und ihn beobachtete. Immer wieder las ich Liebe und Stolz in seinen Augen. Und seine Mutter vergötterte ihn. Manchmal brachten ihm seine Eltern heimlich frisches Brot, einen Lammbraten und einen Krug Milch. Oder sie gaben ihm etwas Geld.«
»Wie nett …«
»Oh ja – aber ich fing an, Iason zu beneiden. Inbrünstig wünschte ich mir, auch meine Eltern würden mich so innig lieben. Wie glücklich wäre ich gewesen, hätte mein Vater mich nur ein einziges Mal angesehen, ohne seine kalte Verachtung zu bekunden … Und meine Mutter kam nie zu mir. Wenn ich sie sehen wollte, musste ich ihren Tempel in Thymaria besuchen. Dort saß ich oft stundenlang, schaute ihre Statue an und fragte mich, ob dies tatsächlich ihr Ebenbild war – oder ob sie manchmal einen flüchtigen Gedanken an mich verschwendete.«
Grace setzte sich auf, lehnte ihren Kopf an seine Schulter und legte ihre Arme um seine Taille. »Hast du deine Mutter in deiner Kindheit nie gesehen?«
Als er seine Wange an ihre legte, lächelte sie tief bewegt. Was er ihr in dieser Nacht anvertraute, hatte er sicher
noch niemandem erzählt. Immer enger fühlte sie sich mit ihm verbunden.
»Bis zum heutigen Tag habe ich sie nicht gesehen«, antwortete er leise. »Manchmal schickte sie irgendwelche Leute zu mir. Sie selbst kümmerte sich nie um mich. So inständig ich sie auch anflehte – niemals folgte sie meinem Ruf. Nach einer Weile hörte ich auf, sie darum zu bitten. Und ich ging auch nicht mehr in ihre Tempel.«
Zärtlich küsste Grace seine Schulter. Wie konnte eine Mutter ihren Sohn so kaltherzig ignorieren? Wie konnte sie die verzweifelte Bitte ihres Kindes missachten?
Sie dachte an ihre eigenen Eltern, an die Liebe und Güte, die sie ihr stets bewiesen hatten. In all den Jahren hatte sie sich gesagt, es wäre besser, ein solches Glück nie zu kennen, als es plötzlich zu verlieren.
Jetzt besann sie sich anders. So schmerzlich die Erinnerungen auch sein mochten – sie spendeten ihr Trost und linderten die Trauer.
Wie wäre ihr zumute, hätte sie so wie Julian aufwachsen müssen?
»Aber du hattest Iason«, flüsterte sie. Hatte ihm diese enge Freundschaft genügt?
»Ja. Als ich vierzehn war, starb mein Vater, und Iason war sogar so freundlich, mich im Urlaub zu sich nach Hause einzuladen. Bei einem dieser Besuche lernte ich Penelope kennen.«
Der Name seiner Frau erfüllte sie mit einem seltsamen Unbehagen.
»So schön war sie«, seufzte er leise. »Und mit Iason verlobt.«
Entsetzt zuckte sie zusammen. Oh Gott, das war gar nicht gut …
»Schlimmer noch – sie liebte ihn.« Geistesabwesend
streichelte er Graces Arm. »Jedes Mal, wenn wir sein Elternhaus besuchten, erwartete sie ihn, warf sich in seine Arme und küsste ihn voller Inbrunst. Und sie beteuerte stets, wie viel er ihr bedeutete. Wenn wir abreisten,
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