Magie und Schicksal - 2
Schuld jetzt ablegen und sich selbst vergeben, so wie ich ihr vergeben habe.
Ich schaue meinen Vater an und will mir sein Gesicht genau einprägen. Die liebevollen Augen und das sanfte Lächeln, das mir immer Trost und Sicherheit gespendet hat. Diese Erinnerung wird mich trösten, ganz gleich, welches Schicksal mich erwarten mag.
»Danke, dass du so lange bei mir geblieben bist. Dass du auf mich aufgepasst und dafür gesorgt hast, dass ich alles finde, was ich brauche.«
Er zieht mich in seine Arme, und wieder atme ich seinen Duft ein. »Es tut mir leid, dass ich nicht mehr tun konnte.«
Ich lasse ihn los und schaue ihm in die Augen. Er muss wissen, dass er alles Menschenmögliche getan hat. »Du hattest nicht die Macht, mir mehr zu geben, Vater.« Ich denke an Alice. An ihre Entscheidung, sich lieber mit den Seelen zu verbünden als mit ihrer eigenen Schwester. Ihrer Zwillingsschwester. Ihrem eigen Fleisch und Blut. »Du warst immer für mich da. Warst mein Anker und mein Fels.«
Er packt mich an den Schultern und blickt mich aufmerksam an. »Gib nicht auf, Lia. Du besitzt große Macht. Wenn irgendjemand dies zu Ende bringen kann, dann bist du es.«
»Ich werde nicht aufgeben, Vater. Ich verspreche es.« Ich lächle, will ihn in Sicherheit wiegen. »Wir sehen uns in der letzten Welt.«
Er berührt meine Stirn. »Mögest du recht haben, mein liebes Mädchen. Und mögen bis dahin noch viele, viele Jahre vergehen.«
Ich trete einen Schritt zurück und ringe um meine Fassung. Ich will Henry nicht anschauen. Ich will ihm nicht in die Augen blicken, die so dunkel sind wie die meines Vaters. Mich einmal von ihm zu verabschieden, hat mich fast das Leben gekostet.
Diesmal muss ich stärker sein.
Als ob er meine Gedanken lesen könnte, sagt er: »Sei nicht traurig, Lia. Wir werden uns wiedersehen.«
Etwas Düsteres erhebt sich von meinem Herzen und ein Lächeln erblüht auf meinen Lippen. »Ja, Henry. Ganz bestimmt. « Ich bücke mich und schließe ihn in meine Arme.
»Ich wusste, dass du nicht die Böse bist, Lia. Ich wusste es die ganze Zeit.«
Und jetzt schaue ich ihm doch in die Augen. Ich sehe Liebe. Liebe und Wahrheit und Licht.
All die Dinge, für die ich kämpfe.
»Du hattest recht, Henry. Ich bin nicht die Böse.« Ich zögere. »Vielleicht ist niemand böse. Vielleicht ist es nicht so einfach.«
Erst als ich es ausspreche, ziehe ich die Möglichkeit in Betracht, dass es die Wahrheit ist.
Henry nickt ernst.
»Ich werde dich vermissen.« Er lächelt. »Aber wir sehen uns ja wieder.«
»Ja.« Ich schaue ihm fest in die Augen, und dann küsse ich ihn auf die Wange. Seine Haut ist so glatt und seidig, wie ich sie in Erinnerung habe.
Nur dieses eine Mal bedauere ich nicht, dass er niemals die rauen Wangen eines erwachsenen Mannes haben wird. Nur dieses eine Mal glaube ich, dass es Henry bestimmt war, mit Mutter und Vater in die letzte Welt einzugehen, und dass ich in meiner Welt bleiben muss, wenigstens im Augenblick noch. Meine Bestimmung ist es, die Prophezeiung zu beenden. Für mich und für alle Schwestern, die nach mir kommen.
Ich trete von ihnen zurück und umfasse sie mit meinem Lächeln. »Geht jetzt. Beeilt euch. Geht ein in die letzte Welt, in der Gewissheit, dass ihr immer in meinem Herzen sein werdet.«
Mein Vater nimmt die Hand meiner Mutter, und sie nimmt Henrys Hand. Sie wenden sich ab, und meine Mutter blickt ein letztes Mal über ihre Schulter zurück zu mir. Ich erwarte, dass ihre letzten Worte an mich bedeutungsvoll sind, und auf ihre eigene Weise sind sie das auch. Auf ihre Weise sind es die bedeutsamsten Worte, die sie hätte sagen können, und sie sorgen dafür, dass sich ein entschlossenes Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitet.
»Die Seelen können mir regelrecht leidtun, meine Tochter. Sie haben ja keine Ahnung, mit wem sie sich da anlegen. «
Ich grinse immer noch, nachdem sie zwischen den Bäumen verschwunden sind. In diesem Augenblick glaube ich meiner Mutter. In diesem Augenblick tun auch mir die Seelen leid. In diesem Augenblick halte ich alles für möglich.
34
U nser Aufbruch aus London erfolgt ohne jegliche Heimlichtuerei. Unsere Reisegruppe ist viel zu groß, um unbemerkt die Stadt verlassen zu können, und wir haben es satt, uns zu verstecken – und außerdem viel zu eilig. Keiner von uns spricht aus, was wir alle wissen: Es ist kein Geheimnis, weder für Alice, noch für die Seelen, dass wir auf dem Weg nach Avebury sind.
Und auch nicht für Samael.
Der
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