Magie und Schicksal - 2
ihn, während er sich dem Tee widmet. Er ist schmal gebaut und hat helle Haare, dazu ein ungewöhnlich sanftes Wesen. Er reicht jedem von uns eine zierliche Porzellantasse, und wir schauen uns in der reich bestückten Bibliothek um, während wir unseren Tee trinken.
Victor deutet auf ein Tablett mit Keksen und kleinen Kuchen. »Bitte bedienen Sie sich. Ich kann mich noch gut erinnern, dass die Reise von London lang, ermüdend und – wenn ich ehrlich sein soll – ziemlich langweilig ist.«
Ich muss über seine Freimütigkeit lachen. Mir wird das Herz leicht, und ich merke, dass es sehr lange her ist, seit ich – außer in Dimitris Gegenwart – gelacht habe. Ich nehme mir einen hauchzarten Butterkeks vom Tablett.
»Danke für den Tee.« Ich lächle ihn an. Ich kann mich nicht entsinnen, wann ich zuletzt jemanden so schnell ins Herz geschlossen habe.
Er winkt ab. »Es ist mir ein Vergnügen, junge Dame. Das Mindeste, was ich tun kann, nach meinem unmöglichen Benehmen an der Tür. Bitte vergeben Sie mir.«
Ich schlucke die Kekskrümel herunter, bevor ich frage: »Bekommen Sie nicht gerne Besuch?«
Victor seufzt. Sein Lächeln ist traurig. »Im Gegenteil. Ich bekomme schrecklich gern Besuch.«
»Warum haben Sie dann die Tür nicht geöffnet?« Dimitris Stimme klingt unerwartet sanft.
»Nun, das ist ziemlich kompliziert. Wissen Sie, ich habe Schwierigkeiten mit … Ich kann nicht …« Er holt tief Atem und setzt von Neuem an. »Es ist schwierig zu …«
»Scheint so, als hätten Sie Angst«, erklärt Edmund sachlich.
Victor nickt. »Ja, Sie haben recht.«
»Angst wovor, wenn ich fragen darf?« Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber ich habe noch nie jemanden getroffen, der Angst hat, den Fuß vor die Tür zu setzen.
Er zuckt mit den Schultern. »Vor Krankheiten, Kriminellen, Unfällen, scheuenden Pferden. Vor allem, glaube ich.«
»Aber wie bekommen Sie die Dinge, die Sie brauchen?«, fragt Madame Berrier und schaut sich in dem prächtigen Zimmer um.
Er hebt die Hände, die Handflächen nach oben gewandt,
als ob alles, was er nötig hat, aus der Zimmerdecke der Bibliothek auf ihn niederregnen würde. »Die Dienstboten sorgen für Essen und Feuerholz. Mein Schneider kommt zu mir ins Haus. Ich habe alles, was ich brauche, denke ich.« Aber er sagt es mit der Stimme eines Menschen, der etwas vermisst.
Madame Berrier setzt ihre Teetasse ab. »Außer Gesellschaft«, sagt sie freundlich.
Er lächelt sie dankbar an. »Außer Gesellschaft.«
Madame Berrier nimmt Mr Wigans Hand. »Dann werden wir Sie recht oft besuchen – es sei denn, Sie halten uns für aufdringlich.«
Victors Augen strahlen freudig auf. »Aber ganz und gar nicht! Ich würde mich freuen.« Er beugt sich vertraulich vor. »Allerdings muss ich Sie jetzt schon um Nachsicht bitten, wenn es etwas dauert, bis ich Sie einlasse.«
Sie lacht, den Kopf in den Nacken geworfen, und ich sehe die junge Frau, die sie einst war. Sie war wunderschön und sie war wild. Ich denke, wir hätten uns auch früher schon prächtig verstanden.
»Natürlich nicht«, sagt sie.
»So«, sagt Victor und stellt ebenfalls seine Tasse ab. »Sie machen mir mit diesem Besuch eine große Freude und waren außerdem so großzügig, mir meine … Marotte nicht übel zu nehmen. Was kann ich für Sie tun?«
»Diese jungen Leute versuchen, ein Rätsel zu lösen, weißt du?«, sagt Mr Wigan. »Es ist von großer Bedeutung, und obwohl ich über kein geringes Wissen in diesen Angelegenheiten
verfüge, kann ich nirgends einen Hinweis in meinen Büchern finden.«
»Um was genau handelt es sich? Eine Karte? Ein Datum? Ein geheimnisvolles Relikt?« Er lacht und beschreibt mit seinem Arm einen weiten Bogen, als ob er die zahlreichen Bücherregale umfassen wollte, die entlang der Wände stehen. »Ich habe jede Menge Zeit. Zeit, die ich hier verbringe, mit dem Lesen all dieser Bücher. Ich bin auf vielen Gebieten belesen, aber besonders in alternativer Geschichte.«
Edmunds Stimme hallt durch den hohen Raum. »Alternative Geschichte?«
Dimitri wendet sich zu ihm. »Ich glaube, Victor bezieht sich auf Erklärungen und Deutungen von historischen Ereignissen und religiösen Vorkommnissen, die jenseits der Konvention liegen.«
Victor nickt. »Genau.«
»Dann sind Sie vermutlich genau der Richtige, um uns zu helfen.« Ich betrachte unsere kleine Gesellschaft und wundere mich über das Schicksal, das so unterschiedliche Menschen zusammengebracht hat, noch dazu unter unglaublichen
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