Magie und Schicksal - 2
und wartet auf Sie an einem besseren Ort.«
Ich nicke und wehre den Schmerz ab, der sich meiner Seele bemächtigen will. Henry ist wirklich an einem besseren Ort. Und er wird an einen noch schöneren gelangen, wenn er zusammen mit meinen Eltern in die letzte Welt übergeht. Um ihn habe ich keine Angst, und auch nicht um mein eigenes Leben. So einfach ist es nicht.
Nein.
Meine größte Angst ist, dass mich die Seelen überwältigen, während ich mit den Schwingen reise. Dass mich der eisige Abgrund umfangen wird und ich meinen Bruder nie wiedersehen werde. Dass mir der Tod verwehrt bleibt und ich stattdessen gezwungen werde, auf ewig in den Anderswelten zu verweilen, gefangen in der Hölle, die mir die Seelen bereiten werden.
Aber natürlich sage ich nichts dergleichen. Das wäre sinnlos.
Ich lächle Madame Berrier nur an. »Ich danke Ihnen. Mehr bleibt mir angesichts Ihres Mitgefühls nicht zu sagen.
Wir erreichen die Haustür und Dimitri wendet sich an Mr Wigan. »Ich würde gerne klopfen, aber da ich keine Ahnung habe, vor wessen Tür ich stehe, möchte ich doch besser Ihnen den Vortritt lassen.«
Anscheinend kann nur ich den Sarkasmus in seiner Stimme hören.
Mr Wigan tritt vor. »Recht haben Sie, mein Junge. Recht haben Sie.«
Mr Wigan umfasst den mächtigen Messingtürklopfer mit der Hand und lässt ihn mehrmals auf die Metallplatte fallen. Auf der anderen Seite hallt das Echo der Schläge durch das weitläufige Haus.
Schweigend stehen wir da, nachdem das Klopfen verhallt ist, und schauen uns um, betrachten den schlafenden Garten und die blattlosen Bäume. Im Sommer muss es hier wunderschön sein, aber jetzt ist alles kahl und leer – und ein bisschen beängstigend.
Die Tür knarrt leise, und ich merke, dass jemand auf der anderen Seite steht. Erst glaube ich, dass nur ich die Anwesenheit eines Menschen im Haus bemerkt habe, aber dann wendet sich Mr Wigan mit lauter Stimme an die Tür.
»Victor? Ich bin’s, Alastair Wigan. Ich bin übers Meer gefahren, nur um dich zu sehen, mein alter Freund. Jetzt mach die Tür auf!«
Ich wundere mich über den lockenden Ton in seiner Stimme. Es klingt gerade so, als ob er mit einem störrischen Kind spräche. Aber es ist vergeblich. Die Tür bleibt geschlossen. »Ich bin’s wirklich, Victor, und noch ein paar
andere.« Er betrachtet unsere kleine Gesellschaft. »Ein paar Leute, die dich kennenlernen und in einer äußerst wichtigen Angelegenheit befragen wollen.«
Wieder knarrt die Holztür, aber ansonsten rührt sich nichts. Edmund und Dimitri wechseln einen Blick, als ob sie sich stumm über irgendetwas verständigen würden.
Mr Wigan seufzt und wendet sich zu mir. »Er hat ein kleines Problem, wissen Sie? Er geht nicht gern nach draußen, macht nicht einmal die Tür auf.« Er beugt sich zu mir und sagt vernehmlich in mein Ohr: »Er fürchtet sich.«
»Ich fürchte mich nicht!« Ich zucke zusammen, als plötzlich von der anderen Seite der Tür eine Stimme ertönt. »Ich habe dich bloß nicht erwartet.«
Madame Berrier presst die Lippen zusammen und schaut Mr Wigan an. »Alastair, mein Lieber, vielleicht sollte ich es versuchen. Die Stimme einer Frau kann Wunder bewirken. «
Mr Wigan scheint über den Vorschlag nachzudenken, als die Stimme auf der anderen Seite sich wieder meldet.
»Eine Frau? Willst du damit sagen, dass du eine Frau bei dir hast, Alastair? Eine richtige Dame?« Die Stimme klingt ungläubig, als ob Mr Wigan verkündet hätte, er hätte ein exotisches Tier an der Leine.
Mr Wigan tritt näher an die Tür. »Noch besser«, sagt er. »Es sind zwei.«
»Also hören Sie mal«, empört sich Edmund, »es schickt sich wohl kaum, die Damen als Pfand …«
Aber noch ehe er den Satz beenden kann, wird die Tür
aufgerissen, und wir starren in die blinzelnden Augen eines kleinen, zierlichen Mannes.
»Wenn du gesagt hättest, dass dich Damen begleiten, wäre ich nicht so unhöflich gewesen.«
»Wenn du die Tür geöffnet hättest, hättest du es selbst gesehen«, brummelt Mr Wigan.
Der Mann mit Namen Victor ignoriert ihn, verbeugt sich leicht vor Madame Berrier und mir und sagt: »Ich bitte Sie um Verzeihung, meine Damen. Bitte machen Sie mir das Vergnügen und leisten Sie mir zum Tee Gesellschaft. Wenn Alastair Sie zu mir gebracht hat, kann es sich nur um eine Angelegenheit von großer Wichtigkeit handeln.«
»Bitte vergeben Sie mir. Ich habe kaum Dienstboten, aber ich denke, ich kann uns auch selbst den Tee einschenken.«
Ich betrachte
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